Hans-Friedrich Traulsen: Trauerrede für Silke Reyer

Aus SPD Geschichtswerkstatt

Rede zur Trauerfeier für Silke Reyer (1940-2011) am 6. Dezember 2011, gehalten vom Ratsherrn Dr. Hans-Friedrich Traulsen, Kreisverband Kiel:

„Nichts kommt von selbst. Und wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf der Höhe der Zeit zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“

Mit diesen Worten ließ Willy Brandt (am 15.9.) 1992 vom Sterbebett aus die Delegierten der sozialistischen Internationale in Berlin grüßen. Die zunächst pessimistischen Feststellungen der ersten beiden Sätze, die dann jedoch in einen zukunftsgerichteten Appell münden, stellen so etwas wie ein politisch-philosophisches Vermächtnis dieser sozialdemokratischen Leitfigur dar. Es sind drei Sätze, an die heute das trauernde Gedenken an Silke Reyer angeknüpft werden soll.


1. Satz: Nichts kommt von selbst.

Es ist nicht an Silkes Wiege gesungen worden, dass sie eines Tages und dann für über ein Jahrzehnt Kiels höchste politische Repräsentantin werden sollte. Am 16. April 1940, also am Anfang des von den Nazis entfesselten Krieges geboren, stammt sie aus einem Arbeiterhaushalt in der Wik, aus so genannten „kleinen Verhältnissen“. Die Schulausbildung beendete sie 1958 mit dem mittleren Abschluss, arbeitete dann vier Jahre im Einwohnermeldeamt der Landeshauptstadt Kiel und dann 1962 bis 1970 in der Arbeits- und Sozialrechtsabteilung des DGB.

Wie es bei einer gewerkschaftlich vorgeprägten jungen Frau wenig verwunderlich ist, traf sie ihren späteren Mann Horst das erste Mal auf der Maikundgebung 1962. Richtig kennen und lieben lernten sich die beiden dann 1963 bei der Vorbereitung einer gewerkschaftlich organisierten Norwegenfahrt. 1966 heirateten Silke und der damalige Student Horst und wohnten ab dann, das heißt also seit jetzt 45 Jahren, in Mettenhof, zunächst im 9. Stock in der Odensestraße, zwei Jahre später in der Randersstraße, seit 1978 im eigenen Haus in Turkuring.

1970 kam beider Tochter Inken zur Welt. Über all‘ das hinaus, was Geburt und plötzliche Neuexistenz eines Kindes für die Eltern an fundamentaler Veränderung bedeutet, war das Jahr 1970 auch in beruflicher Hinsicht ein Wendepunkt für die nunmehr 30 Jahre alte Silke. Sie beendete ihre berufliche Tätigkeit, wechselte aber nicht, wie es auch in jener Zeit noch nicht unüblich war, in die alleinige Rolle der Hausfrau und Mutter, sondern sie begann ihre zweite, ihre ehrenamtliche Laufbahn.

Der eine Zweig dieser bemerkenswerten Karriere war Silkes Tätigkeit bei der und für die Arbeiterwohlfahrt. Sie startete bei der AW Kiel gleich als Mitglied des Kreisvorstandes, war 1974 bis 1989, also stolze 15 Jahre, Kieler Kreisvorsitzende. Darüber hinaus war sie 12 Jahre lang Vorstandsmitglied im Landesverband Schleswig-Holstein und arbeitete auf Bundesebene und als AW-Vertreterin in anderen Organen der freien Wohlfahrtspflege mit. Es dürfte kaum möglich sein, die Unzahl der sozialpolitischen Projekte aufzuführen, die sie mit angeschoben und realisiert hat. Herausgehoben sei hier nur der Mettenhofer Jugendbauernhof der AWO, für den sie mit ihrem Spendenaufruf über ihren Tod hinaus ein sichtbares Zeichen der Verbundenheit gesetzt hat.

Noch weitaus öffentlichkeitswirksamer, aber immer eng verschränkt mit dem sozialen Engagement ist ihr politisches Lebenswerk gewesen. 1969, als die neue sozialliberale Koalition unter dem Kanzler Willy Brandt begann, das zu beseitigen, was man heute als „Reformstau“ der Nachkriegszeit bezeichnen würde, trat sie in die SPD ein, ein vor ihrem biographischen Hintergrund folgerichtiger Schritt. Gleich 1971 wurde sie Mitglied des Ortsvereinsvorstandes der Mettenhofer SPD, war 1974 bis 1978 hier im Ortsbeirat und rückte 1977 in die Ratsversammlung nach. Ratsfrau war sie dann bis 1998, also über 20 Jahre lang. Gleich nach ihrer Wahl in die Ratsversammlung 1978 wurde sie 2. Stellvertretende Stadtpräsidentin und ab 1986 dann bis zu ihrem Ausscheiden aus dem Rat 1998 Kieler Stadtpräsidentin, über drei Wahlperioden und damit länger als jedes Stadtoberhaupt vor oder nach ihr.

Sie hat durch ihre Amtsführung über all die Jahre Maßstäbe gesetzt und die Stadt bei den verschiedensten Anlässen, bei Vereinen, Verbänden, Institutionen, der Universität, der Marine, bei Unternehmen und vielen anderen mehr würdig vertreten. Sie ist auf die Menschen zugegangen, hat vielfältige Kontakte gehabt und neue geknüpft und kann sicher als „Stadtpräsidentin zum Anfassen“ gelten, oder wie es im Nachruf der KN hieß, als Präsidentin mit Würde und Volksnähe. Sie hat dabei das Amt nicht auf bloße Repräsentation beschränkt, sondern deutliche politische Akzente gesetzt.

Aus ihrer Funktion heraus hat sie jahrelang im Vorstand des Städtetages Schleswig-Holstein, aber auch auf Bundesebene im Hauptausschuss des Deutschen Städtetages und in dessen Ausschuss für Frauen- und Gleichstellungsangelegenheiten gewirkt.

Vor Ort in den langen Jahren als Kieler Ratsfrau war sie in den verschiedensten Ausschüssen tätig. Fachlich lagen ihre Schwerpunkte dabei an Personal-, Sozial- und Gleichstellungspolitik. Für ihre außerordentlichen kommunalpolitischen und sozialen Leistungen wurde sie 1993 mit der Freiherr-vom-Stein-Medaille und 1999 mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland geehrt.

Nach ihrem Rückzug aus der Politik engagierte sie sich 2000 bis 2002 besonders für das soziokulturelle Zentrum Hof Akkerboom und von 2004 bis 2010 als Gründungsmitglied und Vorsitzende des Vereins Theatermuseum Kiel. Im privaten Bereich war die Heirat von Inken und Christoph und die Geburt ihrer kleinen Enkelin Bente eine große Freude und Bereicherung.

Wirklich ein erfülltes, ein mit unendlich vielem gefülltes Leben. Diese beeindruckende Lebensbilanz ist nicht von selbst gekommen. Silke hat sie sich hart erarbeitet und dafür unendlich viel Kraft aufgewendet.


2. Satz: Und wenig ist von Dauer

Auf den ersten Blick scheint gerade die Dauerhaftigkeit ein wichtiges Merkmal in Silkes Leben zu sein. Das zeigt allein der Blick darauf, wie lange sie ihre wichtigen Positionen und Ämter innehatte. Es gilt für ihre konstante Treue zum einmal gefundenen Lebensmittelpunkt Mettenhof. Und vieles, was Silke getan hat, wird sie überleben: Menschen, Initiativen, Einrichtungen und Ideen, die sie gefördert hat.

Aber es gab auch die Rückschläge. Den täglichen politischen Frust, wenn andere, auch im eigenen politischen Lager, Silkes Anliegen blockierten. Die Widerstände, mit denen sie sich am Ende ihrer Zeit als Ratsfrau und Stadtpräsidentin oder beim Hof Akkerboom ausgesetzt sah. Die missglückte Aufstellung für den Landtag. Dazu gehörte sicher auch, dass es immer noch kein Theatermuseum in Kiel gibt. Nicht zuletzt rief Silkes wacher und kritischer Geist, ihre eindeutige Tendenz zu klarer Positionierung auch vielfältige Gegnerschaft auf den Plan.

Vor allem aber gab es die Rückschläge durch Krankheiten, die mit zunehmendem Lebensalter immer quälendere Begleitmusik ihres Alltags wurden. Sie litt an Parkinson, Fibromyalgie und weiteren Krankheiten. Auch damit ging Silke offen und direkt um. Sie hat gegen diese Einschränkungen ihrer Lebenskraft gekämpft, hat sich informiert, neue Therapien ausprobiert, sich an Internetforen beteiligt. Zuletzt aber wurde es zu schlimm. Nach der schweren Erkrankung und dem wochenlangen Krankenhausaufenthalt im Mai mit mehreren Tagen ohne Bewusstsein und schweren Nachwirkungen schien es zunächst wieder aufwärts zu gehen. Doch die Hoffnung trog. Es folgten zwei weitere Krankenhausaufenthalte, ohne dass sich bei dem Problem, dass sie nicht ausreichend essen konnte, wirklich etwas tat.

Seit einigen Wochen wusste Silke, dass es zu Ende ging, und sie ist in vieler Hinsicht sehr bewusst und willensstark damit umgegangen. In erster Linie Horst, die Kinder, aber auch enge Freunde haben sie intensiv dabei begleitet. Wir können die Hoffnung haben, dass Silke trotz ihres großen Leidens friedlich eingeschlafen ist. Horst, der seit dem Krankheitsausbruch ständig um sie war, ja um sie sein musste, hat Silkes letzte Zeit im Motto der Todesanzeige in seiner einfühlsamen Art eingefangen:

Ich bin meine Strecke gegangen

noch weiter, das wäre zu viel.

Hab gekämpft und viel Gutes empfangen.

Nur Ruhe war jetzt noch mein Ziel.


3. Satz: Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf der Höhe der Zeit sein muss, wenn Gutes bewirkt werden soll.

Silke hatte enorm viel Kraft. Das hat sie in den sozialen Ehrenämtern, in der Politik und im Umgang mit ihren Krankheiten bewiesen. Sie brannte gewissermaßen für das, was sie wollte, für das, was sie für wichtig und richtig hielt. Und sie wollte viel, lebte diesbezüglich in vollen Zügen. Die Kehrseite davon war, dass sie sich nur schwer entspannen konnte, und sicher hat auch ihre Gesundheit und manchmal auch die Familie darunter leiden müssen. Sie tanzte gern, unter anderem Tango, aber auch dies Vergnügen stand meistens unter den Einschränkungen ihres so sehr in der Öffentlichkeit stehenden Amtes.

Silkes schnelle Auffassungsgabe befähigte sie, auch komplexe Vorgänge zu durchdringen und sich zu eigen zu machen. So wurde sie durch ihre Wissbegier und Gründlichkeit zur Expertin auf den unterschiedlichsten Gebieten. Sie wollte alles ganz genau wissen. Das reichte von komplexen Gesetzesvorhaben im Bereich des Sozialgesetzbuches bis hin zu scheinbar banalen Mettenhofer Verkehrsproblemen. Und was sie einmal für sich erarbeitet hatte, konnte sie kompetent und detailgenau in die Debatte einbringen.

Sie war zu ihrer Zeit schon das, was man heute „Kümmerer“ nennt. Kam jemand mit einem Problem zu ihr, konnte er oder sie auf ihr Interesse und ihre Anteilnahme rechnen. War Silke dann überzeugt, packte sie zu und bewies große Hartnäckigkeit bis hin zur Ungeduld bei der Problemlösung. Städtische Verwaltung, Ratskollegen und andere „Opfer“ wie zum Beispiel Minister oder Sponsoren konnten und können ein Lied von Silkes Durchsetzungsfähigkeit singen. Unzählige große und kleine Projekte besonders in Mettenhof verdanken Silke so ihre Realisierung. Allein die Wirksamkeit der Ratsfrau Reyer für ihren Stadtteil nachzuvollziehen, würde schnell jeden Rahmen sprengen. So sei beim schon erwähnten Jugendbauernhof das dortige privat gesponsorte Projekt Essen für bedürftige Mettenhofer Kinder genannt. Und was für Mettenhof gilt, trifft im Grunde für ganz Kiel zu, insbesondere im Bereich der Fraueneinrichtungen.

Menschen zu helfen, Missstände zu beseitigen, Lebensumstände zu verbessern, das waren die ethischen Leitmotive ihres kommunalpolitischen Handelns. Aber auch bei den übergeordneten Themen war Silke stets auf der Höhe ihrer Zeit. Drei großen gesellschaftspolitischen Herausforderungen der achtziger und neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts galt ihr Engagement: Der Friedenspolitik, der Frauenpolitik und der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit.

Kaum vorstellbar scheint heute mehr, dass in den Strategien des Kalten Krieges Deutschland als atomares Schlachtfeld vorgesehen war. Von gleichberechtigter Teilhabe von Frauen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens war die Republik damals noch sehr viel weiter entfernt als heute. Und über den Gräueln der Nazizeit lag der Mantel des Schweigens und des Vergessens, Deutschlands „zweite Schuld“. Silke setzte gegen diese gesellschaftspolitischen Fehlentwicklungen und Mängel nachhaltige Gegenakzente, betrieb beispielsweise durch Städtepartnerschaften mit dem damaligen Ostblock kommunale Entspannungs- und Friedenspolitik. Sie unterstützte die neu aufkommenden Fraueneinrichtungen oder die Neuetablierung einer jüdischen Gemeinde in Kiel. Dabei bewies sie besonders in der Nachrüstungsdebatte, beim Golfkrieg und beim Einsatz für die Belange von Frauen eine konsequente und parteiliche Haltung und machte sich damit natürlich nicht nur Freunde.

Erwähnt werden muss, dass Silke nicht nur Kümmererin, sondern auch Netzwerkerin war. Sie hatte ein feines Gespür für die Fähigkeiten von Menschen und half vielen dabei, zu einem adäquaten beruflichen Einsatz zu kommen, was dann auch wieder der Sache zu Gute kam. Bei ihrer Tätigkeit im Personalausschuss und in vielen anderen Bereichen war sie Fördererin von Frauen und Männern. Dies war auch ein Ausdruck ihrer Empathie, ihres Mitgefühls und ihres Von-sich-selbst-Absehen-Könnens.

Woher bezog Silke die Kraft, dies alles zu tun? Was befähigte sie zu lebenslangem Einsatz für das Gemeinwohl. Ganz sicher die Verwurzelung in ihrer Herkunft, zu der sie immer gestanden und die sie nie verleugnet hat. Dann die innere Orientierung an den Werten der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität. Sicher das starke kulturelle Interesse an Malerei, Literatur, zuletzt besonders an der Oper. Der Garten. Die Urlaubsreisen. Möglicherweise eine ganz eigene, unkirchliche Form von Religiosität.

Kraftquell und Unterstützung war ihr in jedem Fall das Zusammenleben mit ihrem Mann Horst. Beide haben über all' die Jahre ein überaus erfolgreiches Gespann gebildet, dies auch in der Öffentlichkeit. Vielleicht waren gerade die gravierenden Unterschiede in beider Naturell und gegenseitige klare Absprache die Basis dieser festen Vertrautheit. Eng dazu gehört natürlich die eigene Tochter, für die Silke sich bei aller persönlichen Inanspruchnahme durch ihre Ämter immer besonders verantwortlich gefühlt hat. Zu nennen sind auch Inkens Mann Christoph, die kleinen Bente und Christophs Familie.

Über den Familienkreis hinaus war es eindeutig auch die Sozialität, der Umgang mit und der Kontakt zu Menschen unterschiedlichster Couleur, die Silke schätzte und brauchte, in ihrer öffentlichen Tätigkeit und darüber hinaus im Privaten. So fand sie viele Anregungen und Freundschaften auch im anderen politischen Lager beim Roundtable und beim Bridgespiel, für das sie sich in ihrer gründlichen Art zweieinhalb Jahre lang hatte ausbilden lassen.

Ganz besonders verwurzelt war Silke aber in der Runde der Nachbarn aus dem Turkuring. Als Gegenbewegung zur Vereinzelung durch die Schneekatastrophe 1979 schloss man sich zu einer intensiven Gemeinschaft zusammen, die mit gemeinsamen Frühstücken, Geburtstags- und Silvesterfeiern viel gute und erfüllte Zeit miteinander verbracht hat und diese künftig ohne Silke tun muss. Sie wird in diesem Kreis sehr fehlen.

Wichtig war Silke immer die Feier des 1. Advents und des Heiligabends im Kreis ihrer Familie. Dazu ist es und wird es in diesem Jahr nun nicht mehr kommen. Der Familie wird die Ehefrau, Mutter, Schwiegermutter, Großmutter sehr fehlen, vielen anderen die Freundin und Weggefährtin. Bei allen, die sie kannten, wird ihr kluger, interessierter und zugewandter Blick unvergessen bleiben.

Wir müssen Abschied nehmen von Silke Reyer, die in ihrem Leben trotz aller Rückschläge und Widrigkeiten soviel Gutes hat bewirken können. Dafür danken wir ihr. Lassen Sie uns zum Abschluss dieser Trauerfeier noch einen Moment in stillem Gedenken, vielleicht auch im Gebet, verharren.


Unsere Silke Reyer, die sich so intensiv auf ihr Sterben vorbereitet hat und die früher so gern tanzte, wollte einen fröhlichen Ausklang dieser Trauerfeier: Deshalb hören wir jetzt auf ihren Wunsch zum Ausgang keine Trauermusik, sondern den Walzer Nr. 2 von Schostakowitsch.