Jürgen Weber: Zur Bedeutung der Geschichtsschreibung in der SPD

Aus SPD Geschichtswerkstatt
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Rede von Jürgen Weber aus Anlaß der Buchpräsentation Die Lübecker SPD von 1968 bis 2003. Eine Dokumentation von Ulrich Meyenborg in Lübeck am 13.9.2005:

Von dem polnischen Satiriker Adolf Nowaczynski stammt die Aussage:

"Geschichte hat nur Wert als Anekdote und als revolutionäre Propaganda. Wo die Dummheit für einen Augenblick Platz macht, nimmt ihn sofort die Tradition ein."

Nun – Revolutionäres ist seit 90 Jahren out in der SPD. Zur Anekdote herabgesunken fühlt sich zum Glück noch niemand. Aber nutzen wir eigentlich noch unser Wissen über und um Geschichte?

Ein paar andere Gründe für eine positive Antwort gibt es schon noch:

  • die SPD als älteste politische Partei sieht ihre Geschichte immer noch als wesentlichen Bestandteil ihrer Identität an
  • es ist nicht zu verdrängen, dass sich in ihrer Geschichte Brüche, Konflikte und Entwicklungen der deutschen und europäischen Geschichte seit nun über 140 Jahren spiegeln
  • ihre Funktionselite hat immer darauf bestanden, dass die aktive politische Generation sich auf die Tradition ihrer Vorgänger berufen kann, um sie weiterzuentwickeln
  • und sie kann, bei allen Irrtümern und Fehlern, zu Recht von sich sagen, stets für Humanität und Gerechtigkeit eingetreten zu sein.

Oder, wie es Kurt Schumacher auf dem ersten Parteitag der SPD nach dem 2. Weltkrieg 1946 in Hannover in der ihm eigenen pathetischen Weise formuliert hat: "Wir haben keinen Anlass zur Selbstüberhebung. Wir sprechen die SPD nicht heilig. Aber das beste und sauberste Stück deutscher Geschichte ist trotz aller Fehler und aller Versehen die Sozialdemokratische Partei Deutschlands."

Die Aneignung unserer eigenen Geschichte, das Wissen darum, woher wir kommen, was wir geschafft und was wir nicht geschafft haben, die Kenntnis der Motive, aus denen sich Generationen vor uns Menschen für Ziele eingesetzt haben, für deren Verwirklichung gekämpft haben, das war und ist immer noch eine Grundlage für Überzeugungen und Selbstbewusstsein.

Nach 1945 war die Motivlage für die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte evident: Gerade wegen des Terrors und der Barbarei, die mit der deutschen Geschichte verbunden sind, schien es notwendig, die Kontinuität der geistigen politischen Kräfte deutlich zu machen, deren Anstrengungen von Anbeginn auf ein friedliebendes, freiheitliches, demokratisches, sozial- und rechtsstaatliches, in sein europäisches Umfeld eingebettetes Deutschland gerichtet waren.

Oft zitiert, kennt auch heute noch jeder die berühmten Sätze von Otto Wels im Reichstag zum Ermächtigungsgesetz der Nazis: "Wir deutschen Sozialdemokraten bekennen uns in dieser geschichtlichen Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die Macht, Ideen, die ewig unzerstörbar sind, zu vernichten." Geschichte als Bekenntnis und Sozialismus als Gewißheit. Wichtig, aber auf Dauer natürlich nicht ausreichend.

Denn die Antriebskräfte für die politische Arbeit sind einem ständigen Wandel unterworfen. So ist der Einsatz für soziale Verbesserungen geblieben, der Kampf gegen einen undemokratischen Obrigkeitsstaat zum Glück Vergangenheit.

Eine feste Größe waren und sind in der SPD die grundsätzlichen theoretischen Debatten. Die Geschichte der SPD ist reich an Kontroversen, auch an Niederlagen, Irrtümern und Versagen. Der Streit um die Bewilligung der Kriegskredite im Jahre 1914, die Spaltung der Arbeiterbewegung 1918, die Frage, ob die Machtergreifung Hitlers nicht doch hätte verhindert werden können, die Entwicklung von einer klassenbewussten Arbeiterpartei zu einer Volkspartei in den 50er/60er Jahren, das Spannungsfeld von Politik und Vereinigung beider deutscher Staaten und vieles mehr, sind Fragen, die die Partei immer beschäftigt und aufgerührt haben – Fragen, die Historiker beschäftigt haben und beschäftigen werden.

Und so wird Parteigeschichte immer wieder auch zur Munition in solchen Debatten. Mal durch ernsthafte Befassung mit der eigenen Geschichte, mal als Steinbruch zur Garnierung eigener Argumente.

Betrachten wir nur stichwortartig einige der Debatten und Auseinandersetzungen der letzten 20 Jahre, denen sich die Partei zu stellen hatte und hat, so sollte der SPD klar sein, wie bedeutsam die historische Verankerung ihrer Grundsätze für die Gestaltung der Zukunft ist.

Wir erinnern uns an Ralf Dahrendorfs Behauptung vom "Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts".

Wir erinnern uns an den ersten Bericht des Club of Rome und die Entwicklung einer Politik und Strategie der Nachhaltigkeit und die Entstehung einer ökologischen Bewegung, die u.a. die Theorie und Praxis klassischer Fortschrittsvorstellungen und der Maxime der Verteilung von oben nach unten in Frage stellte.

Als drittes Beispiel sei erwähnt die Herausforderung durch den Zusammenbruch der so genannten realsozialistischen Staatenwelt und die deutsche Wiedervereinigung in ihrer Folge, die so manche gern ausgesparte Frage nach nationaler Identität neu stellte.

Vom Überleben des Sozialstaats im Zeitalter der Globalisierung als Herausforderung ganz zu schweigen.

All diese Umbrüche und intellektuellen wie faktischen Herausforderungen waren und sind für die SPD ohne Vergewisserung ihrer eigenen Geschichte gar nicht zu bewältigen.

So bedeutsam die Geschichtsschreibung in der SPD als Fundament für historische wie für aktuell politische Debatten auch ist, so wichtig ist die praktische, konkrete und lokale Funktion von Geschichtsschreibung in der Sozialdemokratie. Die SPD war und ist ja mehr als die Summe von Prinzipien, von großen historischen Ereignissen, von Führungspersönlichkeiten, von Gesetzgebung oder gar von regierungsverantwortlichem Handeln.

Die SPD, das ist auch die Geschichte von Millionen Menschen, die gelitten, gehofft, gearbeitet und gestaltet haben. Es ist die Geschichte ganz unterschiedlicher Menschen, die für gemeinsame Ziele gewirkt haben und die für dieses Wirken vieles, ja manchmal unmögliches auf sich genommen haben. Menschen, die für ihre Überzeugung Nachteile erlitten, ihre Freiheit verloren, gequält oder ermordet wurden. Auch in unserer freien, demokratischen Wohlstandsgesellschaft, die an vielen Stellen längst ihre Risse bekommen hat, gehören Mut, Gestaltungswillen und Ideen zu dem, was Menschen in ihrem politischen Alltag miteinander verbindet. Erfahrungen aus völlig unvergleichbaren historischen Situationen fließen zusammen.

In den 80er Jahren hat auch die schleswig-holsteinische SPD eine breite Bewegung der "Geschichte von unten" erfasst. Vielerorts wurde damit begonnen, die Geschichte der kleinen Leute vor Ort, Alltagsgeschichten, lokale Geschichte unter neuem Blickwinkel zu erforschen und zu Papier zu bringen. Geschichte war nicht mehr nur eine Sache für die Fachleute, Studierten und Promovierten, sondern Geschichte erfasste auch immer mehr so genannte Laien, die oft selbst ein Stück von dem mit erlebt und gestaltet hatten, was sie dann für die politische Nachwelt dokumentieren wollten. Aus dieser Bewegung heraus ist auch der Beirat für Geschichte in Malente entstanden, den es heute immer noch gibt. Diese Bewegung ist längst abgeflaut und in wieder recht institutionalisierte Formen eingemündet.

Aber gerade weil Geschichte zurzeit nicht besonders "in Mode" ist, muss man jede Initiative und jede Anstrengung loben, ein Stück Parteigeschichte und ihre Folgen für kommende Generationen aufzuschreiben. Die Bedeutung der Geschichtsschreibung in der SPD nimmt ja nicht ab. Wenn etwas abnimmt, dann ist es die Bereitschaft zur Anstrengung, sich dieser Aufgabe zu unterziehen.

Ulrich Meyenborg hat in seinem Buch bewusst das Jahr 1968 als einen historischen Schnitt für die chronologische Abgrenzung seiner Untersuchung gewählt. Was man heute feststellen muss ist, dass gerade die Generation, die Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre die Geschicke der SPD in die Hand nahm, nur wenig dafür tat, um das historische Wissen und die historischen Erfahrungen ihrer Vorgänger zu dokumentieren, systematisch aufzuarbeiten und schließlich in die Geschichtsschreibung ihrer Partei einfließen zu lassen. Es war im Großen und Ganzen die übernächste Politikergeneration, die losgezogen ist, um Interviews zu machen, Dokumente zu retten, Bibliotheken zu sichten und alle Fragen zu stellen. Mit der Betonung auf alle.

Insofern ist es nicht nur lobenswert, sondern gleichwohl vorbildlich, wenn Ulrich Meyenborg heute unmittelbar aus der eigenen Erfahrung heraus die Chronik der Lübecker SPD bis in dieses neue Jahrhundert fortschreibt.

Tradition zu pflegen ist kein Selbstzweck und Geschichtsschreibung sicherlich auch nicht. Und im Kern kommt es nicht einmal darauf an, ob und wie viel subjektive Betrachtung des Autors in eine solche neue Chronik eingeht.

Entscheidend ist, dass es für die SPD, hier für die Lübecker SPD, einen neuen "Stein des Anstoßes" gibt. Im besten Sinne des Wortes. Nämlich die Anregung und die Herausforderung, sich mit dem Aufgeschriebenen auseinander zu setzen, ihm notfalls auch zu widersprechen, vor allem aber sich vertieft an der einen oder anderen Stelle mit der Thematik zu befassen und daraus neue Untersuchungen, neue Erkenntnisse und neue Anregungen zu gewinnen, damit Geschichte in der SPD ein lebendiges Feld des Diskurses und des Lernens bleibt.

In gern gepflegtem Parteipathos könnte man formulieren: Tradition pflegen heißt nicht, Asche aufbewahren. Tradition pflegen heißt, die Flamme am Brennen zu halten. Die Flamme der Freiheit, des Friedens, der Gerechtigkeit und der Solidarität.

Zur Aufgabe der Geschichtsschreibung der SPD zählt es, dass auch unsere jungen Mitglieder, dass auch künftige Generationen dieses nicht als angestaubte Nostalgie verstehen, sondern eigene Begriffe und ein eigenes Verständnis dafür entwickeln.

Nicht mehr und nicht weniger umfaßt die Bedeutung der Geschichtsschreibung in der SPD.