Reichstagswahl 1874: Unterschied zwischen den Versionen

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Die '''Reichstagswahl 1874''' fand am [[10. Januar]] [[1874]] statt. Sie war die Wahl zum 2. Deutschen Reichstag. Sowohl [[Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein]] als auch [[Sozialdemokratische Partei Deutschlands]] konnte ihre Ergebnisse verbessern. In Schleswig-Holstein erhielten sie mehr als ein Drittel der abgegebenen Stimmen.<ref name=":0">{{Osteroth-100-Jahre}}, Seite 16</ref>
[[Datei:{{#setmainimage:Karte der Reichstagswahlen 1874.svg}}|alternativtext=Die Ergebnisse der Reichstagswahl nach Wahlkreisen.|mini|Die Ergebnisse der Reichstagswahl nach Wahlkreisen. Nur in Schleswig-Holstein und Sachsen konnten die Sozialdemokraten Wahlkreise erobern.]]
Die '''Reichstagswahl 1874''' fand am [[10. Januar]] [[1874]] statt. Sie war die Wahl zum 2. Deutschen Reichstag. Sowohl [[Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein]] als auch [[Sozialdemokratische Partei Deutschlands]] konnte ihre Ergebnisse verbessern. In Schleswig-Holstein erhielten sie mehr als ein Drittel der abgegebenen Stimmen.<ref name=":0">{{Osterroth-100-Jahre}}, Seite 16</ref>


"Das von der sozialdemokratischen Springflut meist bedrohte Land" - so nannte man Schleswig-Holstein nach der Wahl.<ref name=":0" />  
"Das von der sozialdemokratischen Springflut meist bedrohte Land" - so nannte man Schleswig-Holstein nach der Wahl.<ref name=":0" /> "Die gesammte Presse Deutschland ist erstaunt übe den Ausfall der letzten Reichstagswahl in Schleswig-Holstein," analysiert der "Social-Demokrat".<ref name=":1">[https://fes.imageware.de/fes/web/index.html?open=NS04017&page=1 Neuer Social-Demokrat - Tagesausgabe], 11.02.1874</ref>  


Die [[Lassalleaner]] traten mit einem Programm aus bekannten Punkten an: "das Wahlrecht für Soldaten, die Herabsetzung des Waltalters, die Verlegung des Wahltages auf den Sonntag, die Beseitigung der geistlichen Schulaufsicht, eine Reform des Schulwesens, die Verstaatlichung der öffentlichen Verkehrseinrichtungen, die Förderung von Produktivgenossenschaften und die Verdammung des Eroberungskrieges."<ref>{{Osteroth-100-Jahre}}, Seite 15</ref>
In den Wahlkreisen wurde nach absolutem Mehrheitswahlrecht ein Abgeordneter gewählt. Wenn kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichte, wurde eine Stichwahl zwischen den beiden bestplatzierten Kandidaten durchgeführt.
 
Die [[Lassalleaner]] traten mit einem Programm aus bekannten Punkten an: "das Wahlrecht für Soldaten, die Herabsetzung des Wahlalters, die Verlegung des Wahltages auf den Sonntag, die Beseitigung der geistlichen Schulaufsicht, eine Reform des Schulwesens, die Verstaatlichung der öffentlichen Verkehrseinrichtungen, die Förderung von Produktivgenossenschaften und die Verdammung des Eroberungskrieges."<ref>{{Osterroth-100-Jahre}}, Seite 15</ref>


Die Zahl der Mandate für die Sozialdemokraten stieg von 2 auf 9 - von 397. In Schleswig-Holstein gewann erstmals [[Wilhelm Hasenclever]] den Wahlkreis 8 ''Altona, Stormarn'' und [[Otto Reimer]] den Wahlkreis 9 ''Oldenburg in Holstein, Plön'' für den [[Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein|ADAV]]. Auch zum Beispiel im Wahlkreis 10 ''Herzogtum Lauenburg'' erreichte die Sozialdemokratie 23,7% - beachtlich in einem Wahlkreis mit nur 8% an Industriearbeitern.<ref>Zimmermann, Hansjörg: ''Die Sozialdemokratie im Kreis Herzogtum Lauenburg von den Anfängen bis 1933'' in: Paetau, Rainer / Rüdel, Holger (Hrsg.): ''Arbeiter und Arbeiterbewegung in Schleswig-Holstein im 19. und 20. Jahrhundert'' (Neumünster 1987) ISBN 3-529-02913-0</ref>
Die Zahl der Mandate für die Sozialdemokraten stieg von 2 auf 9 - von 397. In Schleswig-Holstein gewann erstmals [[Wilhelm Hasenclever]] den Wahlkreis 8 ''Altona, Stormarn'' und [[Otto Reimer]] den Wahlkreis 9 ''Oldenburg in Holstein, Plön'' für den [[Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein|ADAV]]. Auch zum Beispiel im Wahlkreis 10 ''Herzogtum Lauenburg'' erreichte die Sozialdemokratie 23,7% - beachtlich in einem Wahlkreis mit nur 8% an Industriearbeitern.<ref>Zimmermann, Hansjörg: ''Die Sozialdemokratie im Kreis Herzogtum Lauenburg von den Anfängen bis 1933'' in: Paetau, Rainer / Rüdel, Holger (Hrsg.): ''Arbeiter und Arbeiterbewegung in Schleswig-Holstein im 19. und 20. Jahrhundert'' (Neumünster 1987) ISBN 3-529-02913-0</ref>


Der Eutiner [[Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD)|USPD-Politiker]] [[Wilhelm Dittmann]] erklärte die Wahl von [[Otto Reimer]] später: "Die Großgrundbesitzer waren erbost darüber, daß an Stelle der alten dänischen Gesetze nunmehr die neuen, für sie ungünstigen Gesetze des bismarckschen Reiches getreten waren. Um der Regierung zu zeigen, wohin es führe, wenn man sie nicht genügend estimiere, hatten sie der sozialdemokratischen Agitation freien Lauf gelassen, ja sie gefördert. Hinterher allerdings, als die Gutsarbeiter geglaubt hatten, nun auch Forderungen an die Herren Junker stellen zu können, hatten sie fürchterliche Musterungen unter den Landarbeitern gehalten" Mehr als 200 "Geächtete" verloren Arbeit und Gutswohnung. Unter diesen Umständen ging in [[Ortsverein Neustadt|Neustadt]] bis August 1874 die Abonnentenzahl des ''"Neuen Socialdemokraten"'' von 37 auf 6 zurück.<ref name=":0" />
Der Eutiner [[Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD)|USPD-Politiker]] [[Wilhelm Dittmann]] erklärte die Wahl von [[Otto Reimer]] später: "Die Großgrundbesitzer waren erbost darüber, daß an Stelle der alten dänischen Gesetze nunmehr die neuen, für sie ungünstigen Gesetze des bismarckschen Reiches getreten waren. Um der Regierung zu zeigen, wohin es führe, wenn man sie nicht genügend estimiere, hatten sie der sozialdemokratischen Agitation freien Lauf gelassen, ja sie gefördert. Hinterher allerdings, als die Gutsarbeiter geglaubt hatten, nun auch Forderungen an die Herren Junker stellen zu können, hatten sie fürchterliche Musterungen unter den Landarbeitern gehalten" Mehr als 200 "Geächtete" verloren Arbeit und Gutswohnung. Unter diesen Umständen ging in [[Ortsverein Neustadt|Neustadt]] bis August 1874 die Abonnentenzahl des ''"Neuen Socialdemokraten"'' von 37 auf 6 zurück.<ref name=":0" />
Der ''"Social-Demokrat"'' analysierte: "Daß Freunde über diese Ergebnis im Arbeiterlager und ein fürchterlicher Schrei auf Seiten der Gegner stattfand, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Doc sehen wir erst die Ursache dieses Aufschwunges unserer Partei, dann ist am Schlusse ein noch besseren Urtheil über die Bourgeoisie zu fällen. Vor fünf bis sechs Jahren war die Lehre [[Ferdinand Lassalle|Lassalle]]'s hier unter der Gesammtbevölkerung wenig bekannt; wenig industrielle Orte ([[Ortsverein Altona|Altona]], [[Ortsverein Ottensen|Ottensen]], [[Ortsverein Pinneberg|Pinneberg]], [[Sozialdemokratischer Verein Groß-Kiel|Kiel]], [[Kreisverband Neumünster|Neumünster]] ⁊c.) hatten kleine Zahlen von Mitgliedschaften des All. deutschen Arb.-Vereinsaufzuweisen, und die Hoffnung, in der Provinz festen Boden zu gewinnen, wurde immer durch die Meinung beseitig, erstens, daß Schleswig-Holstein eine vorwiegend Ackerbau betreibende Bevölkerung habe; zweitens, daß bei dem vorhandenen Wohlstand (nicht Reichthum) der Provinz der Mittelstand sich noch lange halten könne, zumal die Konkurrenz der deutschen Großindustrie, welche nach der [[Deutsch-Dänischer Krieg|Annexion]] hier eintrat, anfänglich gar nichts ausrichten konnte; drittens daß der Schleswig-Holsteinische Partikularismus, und viertens daß der Uebelstand der plattdeutschen Sprache, als Hinderungsmittel der Bildung, und die Agitation erschwerten - Doch über alle Hemmnisse sollten wir hinweg gehoben werden; im Norden sollte sich ein fester Kern bilden zur Erlösung des Proletariats. Die Partei hatte sich in [[Ortsverein Altona|Altona]] von 30 Mitgliedeern bis auf einige Hundert vermehrt (wenn wir nicht irren waren es 280), als von verschiedenen Seiten unterstützt - namentlich von Hamburg aus - ein '[[Schleswig-Holsteinischer Arbeitertag 1870, Kiel|Schleswig-Holsteinischer Arbeitertag]]' in Kiel einberufen wurde. Im Frühjahr [[1870]] kam derselbe zustande und nahm unter der Leitung [[Georg Winter|Georg Winters]] einen ruhigen, sagen wir harmlosen Charakter an; denn - was wir alle erhofften - die Heranziehung der Bildungsvereine und der verschiedenen, und noch fernstehenden Arbeiterkorporationen, welche, unter bedeutenden Kosten, durch Aufrufe, Flugblätter ⁊c. ⁊c. aufgefordert waren, Delegierte zu senden, hatte sich nicht erfüllt. Wir können uns noch immer nicht eines wehmütigen Lächelns erwehren, wenn uns die dortige Mandatsprüfung in's Gedächtnis kommt. Ein stenographisch aufgenommenes Protokoll wurde, weil zwecklos, bis heute nicht gedruckt und alle schönen Reden über "erworbene Rechte" blieben der Welt verborgen. Da kam die Polizei; man hielt uns für gefährlich. In Neumünster zuerst, dann in allen Orten, wurde der Allgemeine deutsche Arb.-Verein verboten, Maßregelungen und Strafen folgten. Somit können wir 'Glück auf' rufen. Die Presse, die uns bis dato todtgeschwiegen, brachte nunmehr wenigstens gehässige Artikel. Die Verfolgung spornte den Eifer unserer Parteigenossen zu nie geahnten Opfern an. Was bei der [[Reichstagswahl 1871]] ohne Mittel geleistet wurde, ist erstaunlich. Jeder wollte zeigen, daß er nicht der Macht gegenüber den Nacken beugte. Die Zahl der Mitglieder des Allg. deutschen Arb.-Vereins mehrte sich trotz der polizeilichen Beschränkung.; die Arbeiter kannten die persönlichen Opfer, welche Diejenigen bringen mußten, welche von ihren Brüdern hinaus gesandt wurden, unsere Lehre zu verbreiten, und dadurch, daß die Zeitungen dumm genug waren, dieses nicht ebenfalls zu begreifen, sondern die Agitatoren beschmutzten, brachte sich die Presse selbst um allen Kredit bei dem Arbeiterstande und ebnete die Wege für unser Organ. Wird sich aber dies alles so halten? Ja! - Bei der nächsten Wahl müssen wir sechs Abgeordnete statt zwei durchbringen; auch sind die Bedenken von früher gefallen: erstens gerade der ländliche Proletarier ist zur Erkenntnis seiner Lage gekommen; zweitens, die Großindustrie bürgert sich immer mehr ein und schafft uns neue Mitkämpfer; drittens der Partikularismus ist jetzt gleich Null, und viertens wir haben Redner, die in Schleswig-Holstein geboren und der plattdeutschen Sprache genügend vertraut sind. […]"<ref name=":1" />


Der Wahlerfolg sorgte dafür, dass sich weitere [[ADAV]]-Gruppen in Schleswig-Holstein gründeten.  
Der Wahlerfolg sorgte dafür, dass sich weitere [[ADAV]]-Gruppen in Schleswig-Holstein gründeten.  
== Kandidaten ==
{| class="wikitable"
|'''Wahlkreis-Nr.'''
|'''Wahlkreis-Name'''
|'''Kandidat'''<ref name=":1" />
|-
|1
|Hadersleben, Sonderburg
|[[Georg Winter]]
|-
|2
|Apenrade, Flensburg
|[[Georg Winter]]
|-
|3
|Schleswig, Eckernförde
|Genosse Oldenburg
|-
|4
|Tondern, Husum, Eiderstedt
|?
|-
|5
|Norderdithmarschen, Süderdithmarschen, Steinburg
|[[Georg Winter]]
|-
|6
|Pinneberg, Segeberg
|[[Georg Winter]]
|-
|7
|Kiel, Rendsburg
|[[Georg Wilhelm Hartmann|Wilhelm Hartmann]]
|-
|8
|Altona, Stormarn
|[[Wilhelm Hasenclever]]
|-
|9
|Oldenburg in Holstein, Plön
|[[Otto Reimer]]
|-
|10
|Herzogtum Lauenburg
|?
|}


==Ergebnis==
==Ergebnis==
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*{{Wikipedia}}
*{{Wikipedia}}


==Quellen==
== Einzelnachweise ==
<references />{{Navigationsleiste Reichstagswahlen 1871-1918}}
<references />{{Navigationsleiste Reichstagswahlen 1871-1918}}

Version vom 20. März 2022, 01:09 Uhr

[[Datei:{{#setmainimage:Karte der Reichstagswahlen 1874.svg}}|alternativtext=Die Ergebnisse der Reichstagswahl nach Wahlkreisen.|mini|Die Ergebnisse der Reichstagswahl nach Wahlkreisen. Nur in Schleswig-Holstein und Sachsen konnten die Sozialdemokraten Wahlkreise erobern.]] Die Reichstagswahl 1874 fand am 10. Januar 1874 statt. Sie war die Wahl zum 2. Deutschen Reichstag. Sowohl Allgemeiner Deutscher Arbeiterverein als auch Sozialdemokratische Partei Deutschlands konnte ihre Ergebnisse verbessern. In Schleswig-Holstein erhielten sie mehr als ein Drittel der abgegebenen Stimmen.[1]

"Das von der sozialdemokratischen Springflut meist bedrohte Land" - so nannte man Schleswig-Holstein nach der Wahl.[1] "Die gesammte Presse Deutschland ist erstaunt übe den Ausfall der letzten Reichstagswahl in Schleswig-Holstein," analysiert der "Social-Demokrat".[2]

In den Wahlkreisen wurde nach absolutem Mehrheitswahlrecht ein Abgeordneter gewählt. Wenn kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit erreichte, wurde eine Stichwahl zwischen den beiden bestplatzierten Kandidaten durchgeführt.

Die Lassalleaner traten mit einem Programm aus bekannten Punkten an: "das Wahlrecht für Soldaten, die Herabsetzung des Wahlalters, die Verlegung des Wahltages auf den Sonntag, die Beseitigung der geistlichen Schulaufsicht, eine Reform des Schulwesens, die Verstaatlichung der öffentlichen Verkehrseinrichtungen, die Förderung von Produktivgenossenschaften und die Verdammung des Eroberungskrieges."[3]

Die Zahl der Mandate für die Sozialdemokraten stieg von 2 auf 9 - von 397. In Schleswig-Holstein gewann erstmals Wilhelm Hasenclever den Wahlkreis 8 Altona, Stormarn und Otto Reimer den Wahlkreis 9 Oldenburg in Holstein, Plön für den ADAV. Auch zum Beispiel im Wahlkreis 10 Herzogtum Lauenburg erreichte die Sozialdemokratie 23,7% - beachtlich in einem Wahlkreis mit nur 8% an Industriearbeitern.[4]

Der Eutiner USPD-Politiker Wilhelm Dittmann erklärte die Wahl von Otto Reimer später: "Die Großgrundbesitzer waren erbost darüber, daß an Stelle der alten dänischen Gesetze nunmehr die neuen, für sie ungünstigen Gesetze des bismarckschen Reiches getreten waren. Um der Regierung zu zeigen, wohin es führe, wenn man sie nicht genügend estimiere, hatten sie der sozialdemokratischen Agitation freien Lauf gelassen, ja sie gefördert. Hinterher allerdings, als die Gutsarbeiter geglaubt hatten, nun auch Forderungen an die Herren Junker stellen zu können, hatten sie fürchterliche Musterungen unter den Landarbeitern gehalten" Mehr als 200 "Geächtete" verloren Arbeit und Gutswohnung. Unter diesen Umständen ging in Neustadt bis August 1874 die Abonnentenzahl des "Neuen Socialdemokraten" von 37 auf 6 zurück.[1]

Der "Social-Demokrat" analysierte: "Daß Freunde über diese Ergebnis im Arbeiterlager und ein fürchterlicher Schrei auf Seiten der Gegner stattfand, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Doc sehen wir erst die Ursache dieses Aufschwunges unserer Partei, dann ist am Schlusse ein noch besseren Urtheil über die Bourgeoisie zu fällen. Vor fünf bis sechs Jahren war die Lehre Lassalle's hier unter der Gesammtbevölkerung wenig bekannt; wenig industrielle Orte (Altona, Ottensen, Pinneberg, Kiel, Neumünster ⁊c.) hatten kleine Zahlen von Mitgliedschaften des All. deutschen Arb.-Vereinsaufzuweisen, und die Hoffnung, in der Provinz festen Boden zu gewinnen, wurde immer durch die Meinung beseitig, erstens, daß Schleswig-Holstein eine vorwiegend Ackerbau betreibende Bevölkerung habe; zweitens, daß bei dem vorhandenen Wohlstand (nicht Reichthum) der Provinz der Mittelstand sich noch lange halten könne, zumal die Konkurrenz der deutschen Großindustrie, welche nach der Annexion hier eintrat, anfänglich gar nichts ausrichten konnte; drittens daß der Schleswig-Holsteinische Partikularismus, und viertens daß der Uebelstand der plattdeutschen Sprache, als Hinderungsmittel der Bildung, und die Agitation erschwerten - Doch über alle Hemmnisse sollten wir hinweg gehoben werden; im Norden sollte sich ein fester Kern bilden zur Erlösung des Proletariats. Die Partei hatte sich in Altona von 30 Mitgliedeern bis auf einige Hundert vermehrt (wenn wir nicht irren waren es 280), als von verschiedenen Seiten unterstützt - namentlich von Hamburg aus - ein 'Schleswig-Holsteinischer Arbeitertag' in Kiel einberufen wurde. Im Frühjahr 1870 kam derselbe zustande und nahm unter der Leitung Georg Winters einen ruhigen, sagen wir harmlosen Charakter an; denn - was wir alle erhofften - die Heranziehung der Bildungsvereine und der verschiedenen, und noch fernstehenden Arbeiterkorporationen, welche, unter bedeutenden Kosten, durch Aufrufe, Flugblätter ⁊c. ⁊c. aufgefordert waren, Delegierte zu senden, hatte sich nicht erfüllt. Wir können uns noch immer nicht eines wehmütigen Lächelns erwehren, wenn uns die dortige Mandatsprüfung in's Gedächtnis kommt. Ein stenographisch aufgenommenes Protokoll wurde, weil zwecklos, bis heute nicht gedruckt und alle schönen Reden über "erworbene Rechte" blieben der Welt verborgen. Da kam die Polizei; man hielt uns für gefährlich. In Neumünster zuerst, dann in allen Orten, wurde der Allgemeine deutsche Arb.-Verein verboten, Maßregelungen und Strafen folgten. Somit können wir 'Glück auf' rufen. Die Presse, die uns bis dato todtgeschwiegen, brachte nunmehr wenigstens gehässige Artikel. Die Verfolgung spornte den Eifer unserer Parteigenossen zu nie geahnten Opfern an. Was bei der Reichstagswahl 1871 ohne Mittel geleistet wurde, ist erstaunlich. Jeder wollte zeigen, daß er nicht der Macht gegenüber den Nacken beugte. Die Zahl der Mitglieder des Allg. deutschen Arb.-Vereins mehrte sich trotz der polizeilichen Beschränkung.; die Arbeiter kannten die persönlichen Opfer, welche Diejenigen bringen mußten, welche von ihren Brüdern hinaus gesandt wurden, unsere Lehre zu verbreiten, und dadurch, daß die Zeitungen dumm genug waren, dieses nicht ebenfalls zu begreifen, sondern die Agitatoren beschmutzten, brachte sich die Presse selbst um allen Kredit bei dem Arbeiterstande und ebnete die Wege für unser Organ. Wird sich aber dies alles so halten? Ja! - Bei der nächsten Wahl müssen wir sechs Abgeordnete statt zwei durchbringen; auch sind die Bedenken von früher gefallen: erstens gerade der ländliche Proletarier ist zur Erkenntnis seiner Lage gekommen; zweitens, die Großindustrie bürgert sich immer mehr ein und schafft uns neue Mitkämpfer; drittens der Partikularismus ist jetzt gleich Null, und viertens wir haben Redner, die in Schleswig-Holstein geboren und der plattdeutschen Sprache genügend vertraut sind. […]"[2]

Der Wahlerfolg sorgte dafür, dass sich weitere ADAV-Gruppen in Schleswig-Holstein gründeten.

Kandidaten

Wahlkreis-Nr. Wahlkreis-Name Kandidat[2]
1 Hadersleben, Sonderburg Georg Winter
2 Apenrade, Flensburg Georg Winter
3 Schleswig, Eckernförde Genosse Oldenburg
4 Tondern, Husum, Eiderstedt ?
5 Norderdithmarschen, Süderdithmarschen, Steinburg Georg Winter
6 Pinneberg, Segeberg Georg Winter
7 Kiel, Rendsburg Wilhelm Hartmann
8 Altona, Stormarn Wilhelm Hasenclever
9 Oldenburg in Holstein, Plön Otto Reimer
10 Herzogtum Lauenburg ?

Ergebnis

Wahlergebnis der Sozialdemokratischen Parteien
Stimmanteil Veränderung zu 1871 Mandate
ADAV 3,5 % +2,1 % 6
SDAP 3,3 % +2,2 % 3

Links

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 1,2 Osterroth, Franz: 100 Jahre Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein. Ein geschichtlicher Überblick (Kiel o. J. [1963]), Seite 16
  2. 2,0 2,1 2,2 Neuer Social-Demokrat - Tagesausgabe, 11.02.1874
  3. Osterroth, Franz: 100 Jahre Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein. Ein geschichtlicher Überblick (Kiel o. J. [1963]), Seite 15
  4. Zimmermann, Hansjörg: Die Sozialdemokratie im Kreis Herzogtum Lauenburg von den Anfängen bis 1933 in: Paetau, Rainer / Rüdel, Holger (Hrsg.): Arbeiter und Arbeiterbewegung in Schleswig-Holstein im 19. und 20. Jahrhundert (Neumünster 1987) ISBN 3-529-02913-0