Enquete-Kommission für die Verfassungs- und Parlamentsreform, 1988

Aus SPD Geschichtswerkstatt

Die Enquete-Kommission für die Verfassungs- und Parlamentsreform beschloss der Landtag am 29. Juni 1988[1] nach der Wahl von Björn Engholm zum Ministerpräsidenten.

Die Enquete-Kommission war eine Reaktion auf den massiven Machtmissbrauch der CDU-Regierung von Ministerpräsident Uwe Barschel. Ihr Auftrag war, "Möglichkeiten zur wirksameren Kontrolle der Regierung, zur verstärkten Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, zur Stärkung des Landtags [...] zu prüfen und Anregungen für entsprechende Änderungen [...] zu geben."[2]

"Auch die Landesverfassung von 1990 ist ein Symbol des Aufbruchs. In Reaktion auf die Barschel-Affäre leitet der Landtag im Juni 1988 eine Verfassungsreform ein. Hauptziel ist, Machtmissbrauch von Regierungen auszuschließen. Zunächst in einer „Enquetekommission“, dann in einem parlamentarischen Sonderausschuss unter dem Vorsitz des SPD-Fraktionsvorsitzenden Gert Börnsen, erarbeiten die Abgeordneten die neue Landesverfassung. Die klare Gewaltenteilung zwischen Parlament, Regierung und Justiz soll wieder hergestellt werden, zukünftig das Parlament als 'das vom Volk gewählte oberste Organ der politischen Willensbildung' verankert sein. Rechte von Abgeordneten und Opposition werden ausgebaut, plebiszitäre Elemente eingeführt. Die Landesregierung muss Aktenvorlage gewähren, die Amtszeit der Ministerpräsidenten ist an die Wahlperiode gebunden, der Landtag kann sich selbst auflösen."[3]

Mitglieder

Die Enquete-Kommission tagte zwischen dem 19. August 1988 und dem 21. Januar 1989. Ihre Mitglieder wurden von den Fraktionen benannt:

  • Landtagspräsidentin Lianne Paulina-Mürl (Vorsitz)
  • Prof. Dr. Albert von Mutius, Experte für Öffentliches Recht, Kiel (stellv. Vorsitz)
  • Dr. Helmuth Christensen, ehemaliger Bürgermeister von Flensburg (SSW)
  • Kurt Hamer, ehemaliger Landtagsvizepräsident
  • Prof. Dr. Hans-Peter Schneider, Experte für Staats- und Verwaltungsrecht, Hannover
  • Dr. Brigitte Schubert-Riese, Redakteurin beim Norddeutschen Rundfunk (NDR) Kiel
  • Dr. Egon Schübeler (CDU), ehemaliger Landtagsvizepräsident
  • Prof. Dr. Jürgen Seifert, Hannover
  • Prof. Dr. Uwe Thaysen, Experte für Parlamentarismus und Regierungslehre, Lüneburg

Durch ihre Zusammensetzung wurde für die Enquete-Kommission ein hohes Maß an Unabhängigkeit vorausgesetzt.[4] Sie legte nach 16 Sitzungen am 7. Februar 1989 ihren Schlussbericht dem Landtag vor.[5].

Auf der Grundlage der Ergebnisse der Enquete-Kommission wurde eine umfangreiche Parlaments- und Verfassungsreform eingeleitet.

  • Der Landtag verfügt seitdem über weitreichende Initiativ-, Kontroll-, Frage- und Auskunftsrechte.
  • Die Ausschüsse besitzen ein Selbstbefassungsrecht und tagen öffentlich.
  • Untersuchungsausschüsse und Eingabenausschuss erhielten starke neue Rechte.
  • Die Unabhängigkeit der Justiz ist durch ein transparentes Richterwahlverfahren gesichert.[6]
  • Elemente direkter Demokratie eröffnen den Bürgerinnen und Bürgern neue Einflussmöglichkeiten.
  • Zusätzliche Staatsziele (Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, Gleichstellung, Berücksichtigung der Rechte von Minderheiten) wurden festgelegt.

Sonderausschuss "Verfassungs- und Parlamentsreform"

Der Landtag berief einen Sonderausschuss[7] unter dem Vorsitz von Gert Börnsen, der sich am 27. Februar 1989 konstituierte und am 28. November 1989 seinen Bericht vorlegte. Er diskutierte den Schlussbericht der Enquete-Kommission und gab mit seinen "Vorschlägen und Empfehlungen" dem Landtag Beschlussempfehlungen[8], die die Basis für die erste grundlegende Reform einer Landesverfassung in der BRD bildeten.

SPD-Mitglieder

Heinz-Werner Arens, Holger Astrup, Gert Börnsen, Ursula Kähler, Gabriele Kötschau, Rolf Selzer, Udo Wnuck

Stellvertretende SPD-Mitglieder

Ute Erdsiek-Rave, Jürgen Hinz, Rudolf Johna, Gyde Köster, Heide Moser, Ernst Dieter Rossmann, Manfred Sickmann

Empfehlungen

Der Sonderauschuss empfahl folgende Änderungen[9]:

  1. Änderung der Landessatzung, Einführung einer Landesverfassungsgerichtsbarkeit
  2. Aufhebung des Bannkreisgesetzes
  3. Ergänzung des Gesetzes über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Schleswig-Holsteinischen Landtages (Verhaltensregeln)
  4. Ergänzung des Gesetzes über den Verfassungsschutz im Lande Schleswig-Holstein
  5. Änderung der Landeshaushaltsordnung
  6. Änderung der Geschäftsordnung des Schleswig-Holsteinischen Landtages

Nicht geklärt wurde die Frage, ob es mit der Landesverfassung auch ein Landesverfassungsgericht geben sollte. Der Sonderausschuß verzichtete auf einen entsprechenden Vorschlag, empfahlt aber spätere neue Überlegungen vor dem Hintergrund der weiteren verfassungspolitischen Diskussion in den Ländern der damaligen DDR.[10]

Erst am 1. Mai 2008 nahm das Schleswig-Holsteinische Landesverfassungsgericht seine Arbeit auf. Bis dahin wurden landesverfassungsrechtliche Rechtsstreite vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen, das als Landesverfassungsgericht tätig wurde.

Verabschiedung im Landtag

Einstimmig beschließt der Landtag die neue Landesverfassung am 30. Mai 1990. Berichterstatter des Sonderausschusses, Gert Börnsen bilanzierte im Landtag:

"Heute können wir mit Zufriedenheit feststellen: Was bisher kein Land in der Bundesrepublik Deutschland zustande bekommen hat. haben wir erreicht. Es ist bei gemeinsamer Anstrengung aller politischen Kräfte im Schleswig-Holsteinischen Landtag gelungen. eine Landesverfassung vorzulegen, die Modell sein kann […]. Es ist gelungen, die bisherige Dominanz des Verfassungsorgans Landesregierung zugunsten eines ausbalancierten Gleichgewichts der Verfassungsorgane Landesregierung und Landtag abzubauen. […] Der vorliegende Verfassungsentwurf weist dem Landtag eine besonders wichtige Rolle als oberstes vom Volk gewähltes Organ der politischen Willensbildung zu. Ihm steht die Regierung als oberstes Leitungs-. Entscheidungs- und Vollzugsorgan im Bereich der vollziehenden Gewalt gegenüber. Der Landtag beschließt die Gesetze und kontrolliert die Regierung. Die Rolle der Opposition als wesentlicher Bestandteil der parlamentarischen Demokratie und ihr Recht auf politische Chancengleichheit werden in der Verfassung verankert. Gestärkt wird auch die Unabhängigkeit der Justiz durch die Parlamentarisierung der Richterwahl Gestärkt werden ebenso die Mitwirkungsrechte des Souveräns selbst- des Volkes- durch die Einführung von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid. […] Beispielhaft für andere Länder. aber auch wegweisend für schleswig-holsteinische Landespolitik werden die Staatszielbestimmungen sein […]"[10]

Heinz-Werner Arens deutete dabei auch auf die Punkte hin, bei denen die SPD etwas anderes gewollt hat. Er lehnte bspw. die Trennung von Ministerposition und Mandat in der Landesverfassung ab. "Unser System ist eben im Kern […] eine Parteiendemokratie, im Kern eine Mischung aus Volksherrschaft und individueller Mandatsausübung. So ist im Grunde genommen die Struktur. Deswegen halte ich puristische Festlegungen - dies soll mit diesem Begriff bestenfalls Polemik sein - 'dürfen nicht Mitglieder des Landtages sein' oder 'müssen Mitglieder des Landtages sein' für untragbar- beide Formulierungen! -und für nicht sachangemessen. […] Ich komme zu dem Schluß, daß Kabinette aus unserer Sicht im wesentlichen aus der Reihe der Abgeordneten hervorgehen sollen. Dies soll auch in Zukunft so bleiben. […] Ich hielte es nicht für gut, wenn wir diese Trennung vollziehen würden, wenn wir reine Experten oder- diese Gefahr ist 1949 hier schon einmal diskutiert worden - Beamtenkabinette erhalten würden."[10]

Reaktionen

Der SPIEGEL bezweifelte, ob die Parlamentsreform tatsächlich am richtigen Punkt ansetze:

"Die Parlamentsreform, die vor allem die Rechte der Opposition stärken soll, treibt löblicherweise die Regierungsfraktion voran, gegen die Bedenken der Opposition und des Ministerpräsidenten. Die Reform wird in Kiel als Konsequenz aus der Barschel-Affäre verkauft, eine Verwischung der Lehren. Denn die Zivilcourage der untergebenen Beamten und der umgebenden Minister und Parteifreunde hätte den machtbesessenen Doppeldoktor aufhalten können, nicht aber eine Parlamentsreform."[11]

Die ZEIT schrieb dagegen 1992:

"Insgesamt hat Schleswig-Holstein die demokratische Brise in den Engholm-Jahren gutgetan. Sicherlich, Verfassungsreformen und bürgernahe Politik allein können eine kriminelle Nutzung politischer Macht niemals ausschließen. Aber man muß Engholm zugute halten, den Rahmen geschaffen zu haben, in dem sich ein liberaleres Selbstverständnis der Bürger und Führungszirkel dieses Bundeslandes herausbilden konnte."[12]

Der Historiker Uwe Danker schrieb 2016:

"Der 30. Mai 1990 gerät zur Sternstunde des Landesparlaments. Einstimmig verabschiedet der Landtag die Landesverfassung. Drei Jahre nach der Erschütterung des politischen Systems ist es eine eindringliche Demonstration von Lernbereitschaft und demokratischer Gemeinsamkeit. Und eine persönliche Leistung Gert Börnsens. Die Balance zwischen Parlament und Regierung ist wieder hergestellt. Und: Seither sind neben der 'Gleichstellung von Frauen und Männern' die 'Rechte von nationalen Minderheiten und Volksgruppen' sowie der 'Schutz der natürlichen Grundlagen des Lebens' Staatsziele. Diese Verfassung wird für neue Bundesländer zum Vorbild."[13]

Einzelnachweise