Landesparteitag 1977, Tönning

Aus SPD Geschichtswerkstatt
Landesparteitag Tönning 1977
17. Juni - 19. Juni 1977
Stadthalle Tönning
Badallee 14
25832 Tönning
Siehe auch: Beschlussdatenbank

Der Landesparteitag 1977 fand vom 17. bis 19. Juni in Tönning statt und hatte als großes Thema die Atomkraft. Bereits im Vorfeld hatte es wachsende Kritik an der Politik der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt im Bund gegeben. Auch auf dem Parteitag wurden viele Entscheidungen der Regierung kritisiert. Ein Ortsverein wünschte eine Solidaritätserklärung mit dem Kanzler - sie fand keine Mehrheit.

In einem Schreiben an die Delegierten sagte Landesgeschäftsführer Rolf Selzer: "Dieser Parteitag wird von der Materialfülle und vom Zeitaufwand alle Rekorde brechen." 285.000 Blatt Papier waren im Vorfeld verarbeitet worden - fast 5 Tonnen!

Kinder! Kinder!

Erstmals gab es auf einem Landesparteitag eine Kinderbetreuung.

Beschlüsse

Atomkraft

Dem Landesparteitag lag eine Resolution zur Energiepolitik vor, die im ersten Abschnitt - Zur Lage der Diskussion über die Energiepolitik - einen Überblick die bisherige Entwicklung gab und Forderungen zusammenfasste.

"Der Beschluß des Landesvorstandes der schleswig-holsteinischen SPD, der sich für eine ergebnisoffene Diskussion über das Für und Wider der friedlichen Nutzung der Kernenergie ausgesprochen hatte, hat dazu beigetragen, eine grundlegende energiepolitische Debatte innerhalb der Partei auszulösen und damit auch die Debatte über unser aller Zukunft einzuleiten.

Damit hat sich der Landesverband der SPD in Schleswig-Holstein den Fragen gestellt, die schon frühzeitig von Bürgerinitiativen aufgeworfen worden sind. Wir befinden uns jetzt weltweit an einem Entwicklungspunkt, der die Menschheit zwingt, die natürlichen Grenzen und Möglichkeiten der Erde zu erkennen und einzuhalten und die verfügbaren Naturschätze und technischen Kräfte sparsamer zu verwalten und gerechter zu verteilen, als es in der Vergangenheit geschehen ist. Viele Probleme, die dabei gelöst werden müssen, wurden und werden durch ein wirtschaftliches Denken und Handeln erzeugt, das immer noch überwiegend die Problemlösungen in einer nur quantitativen Produktionsausweitung sucht und dabei die Interessen der kurzfristigen Kapitalverwertung in den Vordergrund rückt und oftmals nur egoistische Nationalinteressen verfolgt. Diese Interessen stehen aber oft im Gegensatz zu

  • gesamtgesellschaftlicher Vernunft (volkswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnung),
  • nationaler und internationaler Gerechtigkeit und Solidarität,
  • den natürlichen und nicht beliebig vermehrbaren Lebensgrundlagen der Menschen,
  • humanen Arbeitsbedingungen,
  • den Grundsätzen der Lebensqualität,
  • den Grundwerten der Demokratie und Selbstbestimmung,
  • den Interessen zukünftiger Generationen.

Mit diesen Problemen muß sich die SPD besonders in der energiepolitischen Diskussion auseinandersetzen. Deswegen fordert der Landesparteitag eine unvoreingenommene und ergebnisoffene Diskussion über die Chancen und Risiken der friedlichen Nutzung von Kernenergie und unterstützt die politische Forderung nach einem Baustopp. Das bedeutet

  • für alle Kernenergieprojekte bis auf weiteres einen Genehmigungs-, Bau- und Inbetriebnahmestopp anzuordnen; eine Energiepolitik, die der Möglichkeit Rechnung trägt, ohne die friedliche Nutzung der Kernenergie auskommen zu können
  • ein geschlossenes Konzept aller Entsorgungs-, Wiederaufbereitungs- und Endlagerungsmaßnahmen unter Offenlegung aller Risiken (politisch, ökonomisch, technisch) vorzulegen. Eine baubegleitende Entwicklung ist nicht zulässig;
  • den Genehmigungsstopp im Rahmen der internationalen Verantwortung bis auf weiteres auch für den Export von kerntechnischen Anlagen auszudehnen.

Der SPD-Landesverband unterstützt und befürwortet diesen Baustopp mit dem Ziel, einen grundlegenden Umdenkungsprozeß in der Energieversorgung einzuleiten. Deswegen muß die Zeit des Baustopps aktiv für Maßnahmen genutzt werden,

  • die die Sicherheit für die Bevölkerung erhöhen und eine wirksamere Vorsorge gegen Schadensfolgen möglicher kerntechnischer Unfälle durchsetzen;
  • mehr Vernunft im Umgang mit Energie fördern;
  • eine bessere Nutzung der Primärenergie ermöglichen;
  • die Entwicklung neuer Formen der Energieerzeugung, insbesondere die Nutzung der unerschöpflichen natürlichen Energiequellen verstärken;
  • die Umweltbelastungen von Kraftwerken verringern;
  • den Bürgerdialog über unsere Energieversorgung in Gang setzen helfen;
  • eine kritische Überprüfung staatlicher Forschungs- und Entwicklungsprogramme für die sogenannten fortgeschrittenen Reaktorlinien in bezug auf ihre Verantwortbarkeit unter Sicherheits- und Wirtschaftlichkeitsaspekten ermöglichen;
  • die Umorientierung der Forschungs- und Entwicklungskapazitäten auf nichtnukleare Energiesysteme und auf die Förderung praktischer Verwendungsintelligenz im Energieverbrauch bewirken;
  • Haushaltsmittel bereitstellen für die Erforschung der biologischen Risiken der Kernspaltungstechnologie und die Verminderung der Umweltbelastung bei konventionellen Kraftwerken;
  • verhindern, daß die beschäftigungspolitischen Konsequenzen aus den vorher genannten Maßnahmen einseitig auf dem Rücken der davon betroffenen und dafür nicht verantwortlichen Arbeitnehmer abgeladen werden;
  • die Diskussion europäisieren.

Erst der an diesen Zielen orientierte verstärkte Einsatz von Wissenschaft und Politik führt zu einer sinnvollen Nutzung der Zeit des Baustopps. Und erst greifbare Ergebnisse dieser Anstrengungen machen ein Ende der Denkpause, das heißt eine sinnvolle Entscheidung über Notwendigkeit und Ausmaß der friedlichen Nutzung der Kernenergie sowie des Exports der Kerntechnologie möglich."

Die Resolution wurde angenommen.

Der Gewerkschafter Hans Schwalbach, der schon vorher bei der SPD "Maschinenstürmerei zu Lasten der arbeitenden Bevölkerung"[1] beklagt hatte, warf daraufhin dem Landesvorstand vor, dass er sich auf die Seite der Bürgerinitiativen gegen Atomkraft stelle, einschließlich deren "zerstörerische[n]" Kräften.[2]

Wahlrecht für AusländerInnen

Auf diesem Parteitag dürfte zum ersten Mal ein kommunales Wahlrecht für AusländerInnen beschlossen worden sein.

Offenlegungspflicht

Dieser Antrag des OV Aukrug mit der Forderung, dass für die MandatsträgerInnen des Europäischen Parlaments, des Bundestages und der Landtage die Offenlegung aller Einkünfte verpflichtend zu sein habe, wurde angenommen.

Vorstandswahlen

Funktion KandidatIn Abgegebene Stimmen Ungültige Stimmen Ja Nein Enthaltungen Prozent Bemerkungen
Landesvorsitzender Günther Jansen 169 2 138 23 6 82,63
1. Stellvertretender Landesvorsitzender Karl Heinz Luckhardt 169 4 132 19 14 80
2. Stellvertretender Landesvorsitzender Gerd Walter 168 137 23 8 81,55
Schatzmeister Sitrygg Beyersdorff 159 98 61,64 Manfred Bublitz unterlag im 2. Wahlgang mit 61 Stimmen.
Beisitzer Heinz-Werner Arens 170 93 54,71
Beisitzer Egon Bahr 170 136 80
Beisitzer Gert Börnsen 170 117 68,82
Beisitzer Jürgen Busack 170 81 47,65
Beisitzer Berend Harms 170 88 51,76
Beisitzer Joachim Kandzora 170 77 45,29
Beisitzer Eckart Kuhlwein 170 101 59,41
Beisitzer Leo Langmann 170 89 52,35
Beisitzerin Maria Lindenmeier 170 85 50
Beisitzer Klaus Matthiesen 170 125 73,53
Beisitzer Horst Mühlenhardt 170 91 53,53
Beisitzer Bodo Richter 170 119 70
Beisitzer Ernst-Wilhelm Stojan 170 80 47,06

Literatur

  1. Eis ohne Energie, DER SPIEGEL, 8.11.1976
  2. Gebauer: Richtungsstreit, S. 150