Rolf Fischer: Man sollte wissen, woher man kommt, um zu wissen, wohin man gehen will

Aus SPD Geschichtswerkstatt
Rolf Fischer bei seiner Rede

Man sollte wissen, woher man kommt, um zu wissen, wohin man gehen will nannte Rolf Fischer den Impulsvortrag, den er auf Einladung des Kreisvorstandes auf dem außerordentlichen Kreisparteitag der Kieler SPD am 6. Oktober 2023 hielt.

Er sagte Folgendes:

Liebe Genossinnen, liebe Genossen!

Vor einigen Zeit haben Oli und ich vor dem Parteihaus intensiv diskutiert über unsere SPD.

Drei Wochen später treffe ich jemanden, der sagt plötzlich: "Ich habe Sie gesehen. Ging es um die Zukunft Ihrer Partei? Das finde ich gut, diskutieren Sie weiter! Jetzt ist die Zeit dazu!"

Tatsächlich: Jetzt ist die Zeit dazu!

Unsere Koordinaten sind unsere Grundwerte: Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität! Sie galten früher und sie gelten heute! Deshalb bleibt es richtig: Man sollte wissen, woher man kommt, um zu wissen, wohin man gehen will! Maßstab für uns heute kann aber nur die moderne Umsetzung dieser Grundwerte sein! Das sind keine Werte aus der Vergangenheit, kein historische Altlast; sie sind Werte für unsere Zukunft.

Darum geht es mir heute!

Zuerst: Danke an die Kreispartei, dass ich hier und heute sprechen darf. Ich freue mich sehr darauf; möchte aber gleich zu Beginn warnen: Dies wird keine nostalgische Rede zur Geschichte der SPD - nach dem Motto: Wie schön war es doch früher! Es wird auch keine pädagogische oder diplomatische Rede! Es wird eine ehrliche, eine klare und konkrete Rede, die eines möchte: offen Position beziehen und Perspektiven für die Partei aufzeigen!

Wir haben einen grün-roten Kooperationsvertrag, der von der Fraktion und mit dem OB umgesetzt werden wird. Dafür werden Christina und die Fraktion schon sorgen! Das ist gut so und eine stabile Basis für die Rathausarbeit!

Zustand

Wir wissen aber, dass man allein mit richtigen Entscheidungen meist keine Wahlen gewinnt! Habe ich 2017 erlebt: Gute Bilanz - schlechtes Ergebnis! Stimmen bringt die politische Stimmung in der Stadt! Und die prägt sich lange vor Wahlkämpfen!

  • Es geht darum, ob Menschen uns zutrauen, die Stadt voranzubringen!
  • Es geht darum, ob sie unseren Werten und unserer Politik vertrauen!
  • Es geht darum, ob sie uns glauben, wenn wir von gerechter Zukunft sprechen!

Die Überzeugungsarbeit der Partei klappt aber zur Zeit nur eingeschränkt, wie die Wahlergebnisse zeigen! Die Reformansätze, die der Kreisvorstand schon vor einiger Zeit und völlig zu Recht angeregt hat, erfüllen diesen Anspruch noch nicht! Schaut man von außen auf unsere Kreispartei, so zeigt sich die politische Gemengelage unklar:

  • Einige sehen gar keinen Reformbedarf;
  • andere wollen zwar verändern, streiten aber über Struktur oder Inhalt;
  • und viele haben sich zurückgezogen, fühlen sich nicht mehr angesprochen!

Das ist ein überaus kritischer Zustand, würde der Arzt feststellen und schon mal vorsichtshalber anfragen, ob auf der Intensivstation ein Bett frei wäre! Um wieder zu gewinnen, müssen wir uns als Partei verändern; nicht überhastet, nicht getrieben, sondern solidarisch und sichtbar! Veränderung ist ein schmerzhafter Prozess, denn alle Vorschläge werden strittig sein; werden Anlass zur Diskussion geben!

Ich sage aber: Streiten wir! Streiten wir auf der Basis unserer Grundwerte! Keine Angst davor, denn Streit ist etwas Positives; er hat uns in unserer Geschichte immer weitergebracht - und so wird es auch jetzt sein! Deshalb noch einmal: Keine Angst vor der öffentlichen Debatte! Zu möglichst vielen Themen! Mit möglichst vielen Mitgliedern! Denn das ist keine Sache nur für die Funktionärselite!

Unsere Veränderung wird begrüßt, auch öffentlich - nicht das Schweigen oder Abtauchen! Es geht um die Dialogfähigkeit unserer Partei, die wir ausbauen können. Würden wir dies nicht tun, dann wäre das eine Form heftiger Selbstverstümmelung, die nicht folgenlos bleibt: Wahlergebnisse bleiben schlecht, mehr Menschen ziehen sich zurück - für eine Volkspartei, die wir bleiben, schon fast ein Offenbarungseid!

Wählen gehen!

Die Menschen, die wir erreichen wollen, das sind nicht die Wechselwählerinnen und -wähler, die ihr Kreuz heute hier, morgen dort machen! Für uns ist die übergroße Zahl der Kieler Nichtwählerschaft die Zielgruppe; bei der Landtagswahl lag die Wahlbeteiligung im roten Wahlkreis Ost nur bei knapp 49 Prozent, im bürgerlichen WK Nord bei 69 Prozent - 20 % höher!!! Bei der Kommunalwahl 2023 sind gleich 54 Prozent zuhause geblieben --> die Mehrheit in Kiel nimmt ihr Wahlrecht nicht mehr wahr!

Und sie tut dies vor allem in unseren Wahlbezirken! Wir sind die Verlierer dieser Wahlenthaltung!

Diese Kielerinnen und Kieler wollten offenbar ihre Stimme nicht der CDU geben oder einer grünen Partei - sie wählen also gar nicht! Wenn es uns gelingt, einen gewissen Anteil dieser Nichtwählerschaft zurückzugewinnen, sie wieder von unserer Stadtpolitik zu überzeugen, dann gewinnen wir auch wieder Wahlen!

Vorschlag: Überlegen wir uns, wie wir gerade in unseren wichtigen und traditionellen Stimmbezirken die Wahlbeteiligung erhöhen können! Konzentrieren wir uns auf diese Bereiche, auf diese Stadtteile, lassen wir uns dort sehen, möglichst oft und möglichst kreativ!

Klares Profil

Deshalb meine zweite Anmerkung: Wir müssen erkennbar, ja unverwechselbar sein!

Mit dem heutigen Parteitag sollte Schluss sein mit der Debatte, ob wir grüner, dänischer, schwärzer oder gar gelber werden müssen, wenn wir wieder Erfolg haben wollen! Das ist ein schlechtes Mosaik, das ist ein politischer Flickenteppich, das ist alles mögliche - aber kein klares SPD-Profil! Es geht um unsere eigenen Vorschläge, um unsere Entwürfe, unsere Konzepte - wir definieren uns nicht in Abgrenzung oder im Kopieren anderer Parteien!

Und wer dazu eine Farbe braucht, dem kann geholfen werden:

Für unser Profil gibt es nur eine Farbe: Das ist ein starkes, ein kräftiges Rot! Das ist nicht nur die Farbe unseres Stadtwappens, das ist unsere Farbe, das ist die Farbe unserer Geschichte und unserer Zukunft!

Sprechen wir die ganze Partei an, besonders auch diejenigen, die sich etwas zurückgezogen haben! Binden wir möglichst viele ein! Da ist viel Kompetenz, viel Erfahrung und viel politische Leidenschaft, die wir gut gebrauchen können! Lasst uns als Partei darüber diskutieren, wie wir die Kielerinnen und Kieler überzeugen, dass es sich lohnt, zu wählen und dass es sich lohnt, die SPD zu wählen! Für dieses Profil braucht es Schwerpunkte: wenige, verständliche und realistische!

Ich bin überhaupt für mehr Realismus: Es geht doch nicht darum, ob ein verwirrtes Fahrrad-Kombinat das Didgeridoo-Spielen verbietet; oder ein beseelter Wissenschaftler 50 Tage für seine Dienstrückreise benötigt; das ist schlagzeilenträchtig, darüber kann man sich am Frühstücktisch gut aufregen; aber eigentlich ist es nur politischer Kleinkram: Einzelinteressen müssen berücksichtigt werden, ja, das stimmt! Aber Einzelinteressen ersetzen nicht die soziale Verpflichtung für die gesamte Gesellschaft! Einzelinteressen sind wichtig, halten aber keine Stadtgesellschaft zusammen!

Es geht darum, dass wir was gegen Kinderarmut tun, dass wir die Klimawende voranbringen, dass wir die Migrationsfrage lösen, dass wir Wohnungen schaffen, dass wir uns um die Pflege kümmern, dass wir für Geflüchtete da sind! Das meine ich mit Realismus, das meine ich mit echtem Profil, das spüren die Leute und erkennen es an!

Drei Schwerpunkte

Ich will kurz drei programmatische Felder nennen, die mir persönlich Grund-werte-wichtig erscheinen:

Was lernen wir aus der industriellen Revolution, die Kiel vor 140 Jahren zu einer anderen Stadt gemacht hat?

Dass man mit Demokratie, Bildung und sozialer Verantwortung - unsere Grundwerte! - einen Veränderungsprozess gestalten kann! Gleiches gilt für die digitale Transformation heute, die unsere Gesellschaft verändert hat und sehr schnell und umfassend weiter verändern wird!

Es gibt neue Formen und Formate für Bildung und Ausbildung, für Arbeit und Arbeitsplätze, für Freizeit und Alltag. Neue Möglichkeiten direkter Beteiligung, schnellen Austausch von Inhalten und den kontrollierten Einsatz von "Künstlicher Intelligenz" - alles das wird auch unsere Freiheit und Demokratie verändern! Ebenso wie ständige Falschinformationen, Hass-Reden, Mobbing im Netz und eine gesteuerte Wahlbeeinflussung! Ein Bereich, in dem die Rechtsextremen im Netz durchaus aktiv sind!

Deshalb werbe ich dafür, dass wir als Hauptstadt-SPD das Feld "Digitalisierung und demokratische Stadtgesellschaft" zu einem wichtigen Arbeitsfeld machen! Die Stadtverwaltung hat eine digitale Vision beschrieben; Kiel hat die Digitale Woche, unsere Hochschulen forschen am Thema - ich habe aber den Eindruck, dass keine Partei dort wirklich politisch mitmischt!

Machen wir es! Wir können das gut, denn wir gewährleisten doch eines: Soziale Ideen und soziales Leben entstehen durch echte Menschen, nicht durch "Künstliche Intelligenz"! Ein Computer ist nicht solidarisch, ein Algorithmus nicht sozial! Lasst uns deshalb mit den Gewerkschaften, mit den Hochschulen, aber auch mit den Unternehmen und den Verwaltungen darüber sprechen, wie sich Kiel als "digitale Hauptstadt" politisch weiter aufstellen kann!

Das hat mit Zukunft für Kiel zu tun!

Zweiter Punkt: Wer das Soziale außer Acht lässt, sollte sich besser aus der Politik zurückziehen!

Das Heizungsgesetz wurde zur grünen Lachnummer, weil die sozialen Folgen, die finanziellen Konsequenzen, die soziale Situation von vielen Menschen zu wenig oder nicht beachtet wurde! Ich habe den Eindruck, dass heute in der öffentlichen Debatte oft eines vergessen wird: Kein Gesetz, keine Richtlinie, keine Regelung - seien sie ökonomisch noch so sinnvoll und seien sie noch so umweltfreundlich - keine Regelung bleibt bestehen, wenn sie nicht sozial akzeptiert wird! Ansonsten folgen die Menschen der Regelung nicht und eine andere Mehrheit schafft sie bald wieder ab!

Es geht dabei um mehr als Sozialpolitik; es geht für uns darum, in jedem Politikfeld die soziale Dimension aufzuzeigen, sie stark zu machen, sie zu verankern!

  • Denn gute Öko- und Umweltpolitik, die notwendig ist, geht nicht ohne soziale Akzeptanz;
  • gute Wirtschafts- und Arbeitspolitik geht nicht ohne soziale Akzeptanz;
  • gute Kultur- und Schulpolitik geht nicht ohne soziale Akzeptanz!

Und ich sage deutlich: Wir als SPD gewährleisten die soziale Akzeptanz in allen Politikfeldern. Das ist unsere ureigenste Aufgabe; das ist unser Grundwert; deswegen heißen wir so, wie wir heißen: Sozialdemokratie! Und wenn wir es nicht machen, macht es keiner! Niemand in der Kieler Politik nimmt uns das ab; weder die eher bürgerlich-konservativen Grünen, noch die fast scheintote Linke - von anderen gar nicht erst zu sprechen!

Das Soziale ist unsere Kompetenz! Es ist der Motor für den Fortschritt unserer Stadt! Viele werden uns hoch anrechnen, dass wir ihre soziale Situation, ihre Bedürfnisse in unserer Politik auf- und ernst nehmen. Hier können und müssen wir als Partei mehr tun; hier können wir mit neuen Ideen und Vorschlägen weiter gehen als Fraktion und Verwaltung. Suchen wir Genossinnen und Genossen, die, für einen begrenzten Zeitraum, mit dem klaren Auftrag, beschreiben, wie unsere soziale Verpflichtung in allen wichtigen Kieler Politikfeldern aussehen wird!

Das profiliert, das werden viele begrüßen, das solidarisiert und aktiviert!

Ich will kurz einen dritten Bereich ansprechen:

Die Bildungs- und Schulpolitik wie die Kulturpolitik werden zur Zeit von uns zu wenig geprägt!

Das ist zugegeben ein schwieriger und komplexer Bereich, der auch schon genug doofe Reformen ertragen musste; aber: werden nicht im Bildungs- und Kulturbereich die zukünftigen Herausforderungen besonders sichtbar, besonders spürbar? Unzureichende Digitalisierung in den Schulen, soziale Probleme in den Klassen, weniger Arbeiterkinder studieren, lebenslanges Lernen ohne Dynamik!

Wir haben eine Reihe von hochkarätigen Bildungseinrichtungen in Kiel; Schulen, Hochschulen und VHS mit enormer Leistungsfähigkeit; lasst uns überlegen, wie wir - über das im grün-roten Vertrag festgelegte Programm hinaus - neue Bildungs- oder Kultur-Akzente setzen können! Hier können wir uns als Partei einbringen! Dabei geht es um unseren Wert Gerechtigkeit:

Lasst uns diese Diskussion mit den Beteiligten, mit den Schulen und Kultureinrichtungen führen! Mit Mathias, mit dem Vorstand und der Fraktion!

Da wir heute hier sind: Fangen wir in Gaarden damit an! Es gibt gute soziale Programme! Überlegen wir uns doch als Partei ein starkes Bildungs- und Kulturprogramm für das Ostufer! Denn das ist ein starker Ort für Bildung, ein starker Ort für Kultur und ein starker Ort für die Sozialdemokratie!

Notwendige Parteireform

Liebe Genossinnen, liebe Genossen!

Ich möchte zum Schluss noch ganz kurz etwas zur Reform der Partei sagen, die eine Voraussetzung ist, um die notwendige Veränderung voranzutreiben. Setzen wir uns mit der Reform nicht unter Zeitdruck; aber verändern wir die Partei kontinuierlich und konsequent! Es geht nicht nur darum, schlaue Papiere zu schreiben, es geht darum, gute Ideen auch umzusetzen!

Lasst uns eine Debatte führen, wie wir unsere Strukturen effektiver aufstellen; so, dass wir die Stimmung in der Stadtgesellschaft unmittelbarer prägen!

  • Wie können wir unsere Struktur verändern, um vor und in den Wahlkämpfen stärker zu sein?
  • Wie können wir im virtuellen Raum noch deutlicher sichtbar werden?
  • Wie können wir den Zusammenhalt in unserer Partei festigen?

Der Kreisvorstand hat schon Gutes vorgelegt! Hier bedarf es aber noch weiterer Ideen! Hier können wir noch mehr von uns verlangen!

Der Maßstab, ob unsere Reform erfolgreich ist, können nur Wahlen bzw. Wahlergebnisse sein. Sie spiegeln wider, ob wir die politische Stimmung in der Stadtgesellschaft beeinflussen oder gar prägen konnten! Die kommende Bundestagswahl findet 2025 statt! In ihrem Vorfeld muss unsere Reform abgeschlossen sein, das ist unser Zeithorizont! Wenn wir die Bundestagswahl wieder gewinnen, dann haben wir die "Pole-Position" - würde man im Rennsport sagen - für die weiteren Wahlen erreicht!

Fazit

Liebe Genossinnen, liebe Genossen!

Die Zielkurve ist genommen! Ich will kurz meine Vorschläge wiederholen; vielleicht spielen sie ja in der Diskussion gleich eine Rolle:

  1. Nichtwählerschaft aktivieren - besonders in unseren Wahlbezirken!
  2. Ein starkes rotes Profil - nicht als Anlehnung oder Kopie anderer!
  3. Mobilisierung derjenigen, die sich zurückgezogen haben!
  4. Soziale Politik in allen Bereichen als Grundwert!
  5. Digitalisierungs-Partei in Kiel - als demokratische Zukunftsoption!
  6. Bildungs- und Kulturpolitik stärken!
  7. Partei- und Strukturreform bis 2025!

Wir benötigen jetzt keine weitere große Utopie, wir benötigen auch keine neue Vision von Kiel - machen wir es drei Nummern kleiner: Schauen wir genau hin, was die Menschen brauchen, wie ihr Alltag, ihr Leben sozial und gerecht gestaltet werden kann! Und stellen wir uns mit unserer Politik darauf ein!

Genossinnen, Genossen!

Über meinem Schreibtisch hängt eine Postkarte, darauf steht:

"Warnung! Geschichte kann zu Einsichten führen und verursacht Bewusstsein!"

Ich denke, für uns galt und gilt dieser Satz immer noch: Denn unsere Grundwerte haben den Kaiser und den NS-Terror überstanden. Sie galten in der Demokratie früher und sie gelten bis heute! Das ist doch eine tragfähige Basis:

Lasst uns als Kieler SPD mutig ans Werk gehen, richtig mutig!

Diese SPD ist kraftvoll, sie ist vielfältig, sie ist tief verankert in Kiel! Und es gilt weiter, was unsere Geschichte beweist:

Einigkeit und Solidarität machen uns stark!