Kinderrepublik Lübecker Bucht: Unterschied zwischen den Versionen

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Am Sonnabend, dem [[5. Juli]] früh um 9 Uhr trafen sich die [[Sozialistische Jugend Deutschlands - Die Falken|Roten Falken]] und Jungfalken zur Probe im "Haus der Jugend". Der Lübecker Volksbote macht an diesem Tag auf mit einem großen Foto (links) und einem Namensartikel von [[Kurt Löwenstein]], dem Vorsitzenden der [[Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde]]: <blockquote>"[…] Unsere Falken machen keinen Ausflug, sondern sie kommen zu einer großen Tat zusammen, auf die sie vorberteit sind durch jahrelange Erziehungsarbeit, zu einem Werk, in dem sie sich selbst wiederfinden wollen, in dem sie Kämpfer und Aufbauer von morgen sein werden. […] Zum erstenmal in dem Brodtener Lager soll mit Jung und Roten Falken erprobt werden, bis zu welchem Grade die Selbstverwaltung und die Selbstverantwortung nach den beiden Altersstufen durchgeführt werden kann. Seit Kiel haben wir eine Menge Formen von Zeltlagern geübt, manches gelernt, aber auch manches als Tradition übernommen. Die Kinderrepublik Lübecker Bucht hat die große Aufgabe bekommen, einmal systematisch zu beobachten und dem Gedanken der Entfaltung der Kräfte der Kinder aus ihren eigenen Bedürfnissen eigenschöpferische Formen und Gestalt zu geben."<ref name=":1">Lübecker Volksbote, [http://library.fes.de/luebeck/pdf/1930/1930-154.pdf Ausgabe 154 vom 05.07.1930]</ref></blockquote>Ab Nachmittag kamen die ersten Sonderzüge mit Kindern aus Richtung Kiel, Hamburg und Breslau in Lübeck ankommen. Die Bahnfahrten der Kinder wurde zu 75 % vom Land Preußen subventioniert. Um 18:30 Uhr sollten sie auf dem [[Historische Orte der Lübecker Sozialdemokratie|Burgfeld]] antreten. Dort sprachen Bürgermeister [[Paul Löwigt]], der Reichstagsabgeordnete [[Julius Leber]], [[Kurt Löwenstein]] und der Präsident der Kinderrepublik [[Hans Otto]] zu ihnen sprechen. Dort wurde die Kinderrepublik ausgerufen.<ref name=":0" />  
Am Sonnabend, dem [[5. Juli]] früh um 9 Uhr trafen sich die [[Sozialistische Jugend Deutschlands - Die Falken|Roten Falken]] und Jungfalken zur Probe im "Haus der Jugend". Der Lübecker Volksbote macht an diesem Tag auf mit einem großen Foto (links) und einem Namensartikel von [[Kurt Löwenstein]], dem Vorsitzenden der [[Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde]]: <blockquote>"[…] Unsere Falken machen keinen Ausflug, sondern sie kommen zu einer großen Tat zusammen, auf die sie vorberteit sind durch jahrelange Erziehungsarbeit, zu einem Werk, in dem sie sich selbst wiederfinden wollen, in dem sie Kämpfer und Aufbauer von morgen sein werden. […] Zum erstenmal in dem Brodtener Lager soll mit Jung und Roten Falken erprobt werden, bis zu welchem Grade die Selbstverwaltung und die Selbstverantwortung nach den beiden Altersstufen durchgeführt werden kann. Seit Kiel haben wir eine Menge Formen von Zeltlagern geübt, manches gelernt, aber auch manches als Tradition übernommen. Die Kinderrepublik Lübecker Bucht hat die große Aufgabe bekommen, einmal systematisch zu beobachten und dem Gedanken der Entfaltung der Kräfte der Kinder aus ihren eigenen Bedürfnissen eigenschöpferische Formen und Gestalt zu geben."<ref name=":1">Lübecker Volksbote, [http://library.fes.de/luebeck/pdf/1930/1930-154.pdf Ausgabe 154 vom 05.07.1930]</ref></blockquote>


Danach zog der Demonstrationszug vom Burgfeld über die Isrealsdorfer Allee, Große Burgstraße, Geibelplatz, Engelsgrube, Schwönekenquerstraße, Beckergrube, Breite Straße, Sandstraße, Klingenberg, Mühlenstraße, St. Annenstraße, Balauerfohr, Hüxstraße, Königstraße zur Schrangenfreiheit.<ref name=":1" /> Von dort werden sie zunächst bei Lübecker Arbeiterfamilien untergebracht. Lübecker Falken helfen ihnen, zu den Wohnungen ihrer Familien zu finden. Im [[Lübecker Volksbote|Lübecker Volksboten]] berichtet ein Kind von seinem Erlebnis an diesem Abend. "Fritz" wurde zusammen mit einem anderen Kind in einer Lübecker Familie untergebracht:<blockquote>''"So. nun kommt man mit mir mit. In diesem Hause wohnt ihr für zwei Tage. Ihr könnt doch wohl allein reingehen." "Selbstverständlich." "Na denn man Freundschaft!" "So Fritze, nun geh du man zuerst rein." "Nee, so dumm bin ich nicht." "Ach, all wieder mit deinem Quatsch. Denn mach ich eben die Tür auf." "Guten Abend." "Guten Abend." "Kommen wir hier richtig?" "Jawoll, kommt man rein!" "Geh doch zu, Fritze." "Ach, laß Dir doch Zeit." "So, nun setzt euch man hier. Ihr seid wohl hungrig." "Doch, och, nee, nein." "Sagt doch die Wahrheit!" "Ja, etwas Hunger haben wir doch!" "So, na, nun haut man rein in die Spiegeleier, wir gehen solange in die Stube." "Na, Fritze, hau doch nich so rein, wie ausverschämt." "Ja, was, wenn ich Hunger haben!" "Du bist doch richtig so'n Vielfraß! Heute Abend im Bett werde ich dich mal kneifen. Na, lach doch nicht so laut!"''<ref>Lübecker Volksbote, [http://library.fes.de/luebeck/pdf/1930/1930-161.pdf Ausgabe 161 vom 14.07.1930]</ref></blockquote>Am Sonntag Morgen wird für die Falken zweimal die Kinderkomödie ''"Hans Urian geht nach Brot"'' von Béla Balázs im Hansatheater von Kinder-Schauspielern der Lübecker Falken aufgeführt.<ref>Lübecker Volksbote, [http://library.fes.de/luebeck/pdf/1930/1930-155.pdf Ausgabe 155 vom 07.07.1930]</ref> Jede der beiden Aufführungen dürfen immer nur Falken aus bestimmten Lübecker Stadtteilen besuchen. Danach marschieren die beiden Gruppen jeweils zum Bahnhof und fahren mit einem Sonderzug Richtung Brodten.
=== Ausrufung der Republik ===
Ab Nachmittag kamen die ersten Sonderzüge mit Kindern aus Richtung Kiel, Hamburg und Breslau in Lübeck ankommen. Die Bahnfahrten der Kinder wurde zu 75 % vom Land Preußen subventioniert. Um 18:30 Uhr sollten sie auf dem [[Historische Orte der Lübecker Sozialdemokratie|Burgfeld]] antreten. Dort sprachen Bürgermeister [[Paul Löwigt]], der Reichstagsabgeordnete [[Julius Leber]], [[Kurt Löwenstein]] und der Präsident der Kinderrepublik [[Hans Otto]] zu ihnen sprechen. Dort wurde die Kinderrepublik ausgerufen.<ref name=":0" />  


Am Donnerstag - einen Tag früher als erwartet - übernachten mehr als 50 Rote Falken aus Österreich und Tschechoslowakei in der Kinderrepublik, die sich auf dem Weg zu einem Jugendtreffen in Kopenhagen befinden. Mit einem schnell improvisierten Festakt begrüßt sie der Lagerpräsident [[Hans Otto]]. Am Ende singen sie die "Internationale".  
Danach zog der Demonstrationszug vom Burgfeld über die Isrealsdorfer Allee, Große Burgstraße, Geibelplatz, Engelsgrube, Schwönekenquerstraße, Beckergrube, Breite Straße, Sandstraße, Klingenberg, Mühlenstraße, St. Annenstraße, Balauerfohr, Hüxstraße, Königstraße zur Schrangenfreiheit.<ref name=":1" /> Von dort werden sie zunächst bei Lübecker Arbeiterfamilien untergebracht. Lübecker Falken helfen ihnen, zu den Wohnungen ihrer Familien zu finden. Im [[Lübecker Volksbote|Lübecker Volksboten]] berichtet ein Kind von seinem Erlebnis an diesem Abend. "Fritz" wurde zusammen mit einem anderen Kind in einer Lübecker Familie untergebracht:<blockquote>''"So. nun kommt man mit mir mit. In diesem Hause wohnt ihr für zwei Tage. Ihr könnt doch wohl allein reingehen." "Selbstverständlich." "Na denn man Freundschaft!" "So Fritze, nun geh du man zuerst rein." "Nee, so dumm bin ich nicht." "Ach, all wieder mit deinem Quatsch. Denn mach ich eben die Tür auf." "Guten Abend." "Guten Abend." "Kommen wir hier richtig?" "Jawoll, kommt man rein!" "Geh doch zu, Fritze." "Ach, laß Dir doch Zeit." "So, nun setzt euch man hier. Ihr seid wohl hungrig." "Doch, och, nee, nein." "Sagt doch die Wahrheit!" "Ja, etwas Hunger haben wir doch!" "So, na, nun haut man rein in die Spiegeleier, wir gehen solange in die Stube." "Na, Fritze, hau doch nich so rein, wie ausverschämt." "Ja, was, wenn ich Hunger haben!" "Du bist doch richtig so'n Vielfraß! Heute Abend im Bett werde ich dich mal kneifen. Na, lach doch nicht so laut!"''<ref name=":2">Lübecker Volksbote, [http://library.fes.de/luebeck/pdf/1930/1930-161.pdf Ausgabe 161 vom 14.07.1930]</ref></blockquote>


Am Freitag begleitete die gesamte Kinderrepublik im Marsch die Gäste nach Travemünde zum Dampfer, der sie nach Kopenhagen brachte:
=== Abmarsch, Richtung Brodten ===
Am Sonntag Morgen wird für die Falken zweimal die Kinderkomödie ''"Hans Urian geht nach Brot"'' von Béla Balázs im Hansatheater von Kinder-Schauspielern der Lübecker Falken aufgeführt.<ref>Lübecker Volksbote, [http://library.fes.de/luebeck/pdf/1930/1930-155.pdf Ausgabe 155 vom 07.07.1930]</ref> Jede der beiden Aufführungen dürfen immer nur Falken aus bestimmten Lübecker Stadtteilen besuchen. Danach marschieren die beiden Gruppen jeweils zum Bahnhof und fahren mit einem Sonderzug Richtung Brodten.


"[]"  
=== Internationale Gäste ===
Am Donnerstag - einen Tag früher als erwartet - übernachten mehr als 50 Rote Falken aus Österreich und Tschechoslowakei in der Kinderrepublik, die sich auf dem Weg internationalen Arbeiterjugendtag in Kopenhagen befinden. Mit einem schnell improvisierten Festakt begrüßt sie der Lagerpräsident [[Hans Otto]]. Am Ende singen sie die "''Internationale''".


Eine Woche später durften die Kinder selbst im [[Lübecker Volksbote|Lübecker Volksboten]] berichten, wie es ihnen bisher ergangen war. Sie bedanken sich für die großzügige Gastfreundschaft der Lübecker Arbeiterfamilien, die wie ihre eigenen Eltern oft gerade arbeitslos sein. Ein Bericht handelt von der Bahnfahrt aus Breslau, ein anderer von Konflikten über die Versorgung zwischen den "Bürgermeistern" und den Kindern aus Schlesien. Zwei Kinder seinen vor ihrer Abreise zum Zeltlager gestorben. Für die toten Genossen veranstaltete die Kinderrepublik eine Trauerfeier, die mit dem Lied "Brüder, zur Sonne zur Freiheit" endet.
Am Freitag begleitete die gesamte Kinderrepublik mit 2000 Kindern im Marsch die Gäste nach [[Ortsverein Travemünde|Travemünde]] zum Dampfer, der sie zusammen mit Hamburger Falken und 60 Junggenossen aus Lübeck<ref name=":3">Lübecker Volksbote, [http://library.fes.de/luebeck/pdf/1930/1930-165.pdf Ausgabe 165 vom 18.07.1930]</ref> nach Kopenhagen brachte: <blockquote>"[…] als sich kurz darauf der Dampfer in Bewegung setzte, da war das Singen, das Freundschaftrufen und Winken hüben und drüben der überzeugendste Beweis dafür, wie nahe sich die deutschen und ausländischen Roten Falken in den zwei tagen gekommen waren. Wir zur Bekräftigung dieser ganz selbstverständlichen internationalen Kameradschaft, die Grenzen und Grenzpfähle spielend überwindet, stimmten zweitausend Rote Falken auf dem Heimwege das Lied an, das dem Geiste ihrer Bewegung den treffendsten Ausdruck gab: ''<nowiki/>'Nie, nie woll'n wir Waffen tragen… Nie, nie woll'n wir wieder Krieg…'''<ref group="Anm.">Das Lied heißt "[https://www.hermann-sr.de/rote_falken_heraus_-_nie_mehr_wolln_wir_waffen_tragen.html Rote Falken heraus!]"</ref> Vom Schiff her über das Wasser ertönten die letzten Klänge der ''Internationalen''."<ref name=":2" /> </blockquote>Eine Woche später durften die Kinder selbst im [[Lübecker Volksbote|Lübecker Volksboten]] berichten, wie es ihnen bisher ergangen war. Sie bedanken sich für die großzügige Gastfreundschaft der Lübecker Arbeiterfamilien, die wie ihre eigenen Eltern oft gerade arbeitslos sein. Ein Bericht handelt von der Bahnfahrt aus Breslau, ein anderer von Konflikten über die Versorgung zwischen den "Bürgermeistern" und den Kindern aus Schlesien. Zwei Kinder seinen vor ihrer Abreise zum Zeltlager gestorben. Für die toten Genossen veranstaltete die Kinderrepublik eine Trauerfeier, die mit dem Lied "Brüder, zur Sonne zur Freiheit" endet.<ref name=":2" /> Für den [[20. Juli]] wurde ein großer Besuchertag angekündigt.<ref>Lübecker Volksbote, [http://library.fes.de/luebeck/pdf/1930/1930-162.pdf Ausgabe 162 vom 15.07.1930]</ref>
 
=== Diphtherie im Lager ===
In der zweiten Woche kommt Erika Fellenberg von den Jungfalken mit der Diphtherie ins Krankenhaus und stirbt dort. Die Diphtherie wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch "Würgeengel der Kinder" genannt. Sie ist eine vor allem im Kindesalter auftretende, akute Infektionskrankheit, die durch eine Infektion der oberen Atemwege hervorgerufen wird.<ref group="Anm.">Siehe {{Wikipedia|NAME=Diphtherie}}</ref> Das Kind hatte die Krankheit von zu Hause aus Danzig mitgebracht. Mit Hilfe des Arztes Dr. Diederichs wurden im Lager Maßnahmen getroffen, die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Es gab Gerüchte über den Ausbruch von Scharlach, die aber nicht zutrafen.<ref>Lübecker Volksbote, [http://library.fes.de/luebeck/pdf/1930/1930-163.pdf Ausgabe 163 vom 16.07.1930]</ref> Der Besuchertag wurde vom Gesundheitsamt abgesagt. Es fand aber eine Radioübertragung aus dem Lager durch die Nordische Rundfunk AG (Norag) statt.<ref name=":3" /> Am Sonnabend, den [[19. Juli]] gibt es abends einen Infoabend für Eltern und interessierte Genossen im [[Gewerkschaftshaus Lübeck|Gewerkschaftshaus]].<ref>Lübecker Volksbote, [http://library.fes.de/luebeck/pdf/1930/1930-166.pdf Ausgabe 166 vom 19.07.1930]</ref>
 
== Anmerkungen ==
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== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==
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Version vom 19. Februar 2022, 16:28 Uhr

Die Kinderrepublik Lübecker Bucht fand ab dem 5. Juli 1930 in Brodten am Theodor-Schwartz-Erholungsheim der Arbeiterwohlfahrt (AWO) statt. Aufgerufen dazu hatte die AWO gemeinsam mit den Kinderfreunden.

1927 hatte die erste deutsche Kinderrepublik in Seekamp bei Kiel stattgefunden und schnell Nachahmer gefunden. 1930 sollte eine Kinderrepublik bei Lübeck stattfinden, an deren Organisation sich auch der 16-jährige Willy Brandt beteiligt haben soll. Die Lübecker Arbeiterbewegung erwartete 2000 Kinder aus dem gesamten Reich, aus der Tschechoslowakei und Österreich.[1] Trotz der wirtschaftlich schwierigen Lage - Drei Millionen Menschen sind in dieser Zeit arbeitslos. Außerdem hatten andernorts Nazis Kinder-Zeltlager der Kinderfreunde angegriffen.

Ablauf

Text: "Unseren roten Falken zum Gruß flaggt morgen jedes Arbeiterhaus! Wo ein Sozialist wohnt: Fahnen heraus!
Aufruf im Lübecker Volksboten am Tag vor Beginn.
Junge schlägt eine Trommel
Junge schlägt eine Trommel

Am Sonnabend, dem 5. Juli früh um 9 Uhr trafen sich die Roten Falken und Jungfalken zur Probe im "Haus der Jugend". Der Lübecker Volksbote macht an diesem Tag auf mit einem großen Foto (links) und einem Namensartikel von Kurt Löwenstein, dem Vorsitzenden der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde:

"[…] Unsere Falken machen keinen Ausflug, sondern sie kommen zu einer großen Tat zusammen, auf die sie vorberteit sind durch jahrelange Erziehungsarbeit, zu einem Werk, in dem sie sich selbst wiederfinden wollen, in dem sie Kämpfer und Aufbauer von morgen sein werden. […] Zum erstenmal in dem Brodtener Lager soll mit Jung und Roten Falken erprobt werden, bis zu welchem Grade die Selbstverwaltung und die Selbstverantwortung nach den beiden Altersstufen durchgeführt werden kann. Seit Kiel haben wir eine Menge Formen von Zeltlagern geübt, manches gelernt, aber auch manches als Tradition übernommen. Die Kinderrepublik Lübecker Bucht hat die große Aufgabe bekommen, einmal systematisch zu beobachten und dem Gedanken der Entfaltung der Kräfte der Kinder aus ihren eigenen Bedürfnissen eigenschöpferische Formen und Gestalt zu geben."[2]

Ausrufung der Republik

Ab Nachmittag kamen die ersten Sonderzüge mit Kindern aus Richtung Kiel, Hamburg und Breslau in Lübeck ankommen. Die Bahnfahrten der Kinder wurde zu 75 % vom Land Preußen subventioniert. Um 18:30 Uhr sollten sie auf dem Burgfeld antreten. Dort sprachen Bürgermeister Paul Löwigt, der Reichstagsabgeordnete Julius Leber, Kurt Löwenstein und der Präsident der Kinderrepublik Hans Otto zu ihnen sprechen. Dort wurde die Kinderrepublik ausgerufen.[1]

Danach zog der Demonstrationszug vom Burgfeld über die Isrealsdorfer Allee, Große Burgstraße, Geibelplatz, Engelsgrube, Schwönekenquerstraße, Beckergrube, Breite Straße, Sandstraße, Klingenberg, Mühlenstraße, St. Annenstraße, Balauerfohr, Hüxstraße, Königstraße zur Schrangenfreiheit.[2] Von dort werden sie zunächst bei Lübecker Arbeiterfamilien untergebracht. Lübecker Falken helfen ihnen, zu den Wohnungen ihrer Familien zu finden. Im Lübecker Volksboten berichtet ein Kind von seinem Erlebnis an diesem Abend. "Fritz" wurde zusammen mit einem anderen Kind in einer Lübecker Familie untergebracht:

"So. nun kommt man mit mir mit. In diesem Hause wohnt ihr für zwei Tage. Ihr könnt doch wohl allein reingehen." "Selbstverständlich." "Na denn man Freundschaft!" "So Fritze, nun geh du man zuerst rein." "Nee, so dumm bin ich nicht." "Ach, all wieder mit deinem Quatsch. Denn mach ich eben die Tür auf." "Guten Abend." "Guten Abend." "Kommen wir hier richtig?" "Jawoll, kommt man rein!" "Geh doch zu, Fritze." "Ach, laß Dir doch Zeit." "So, nun setzt euch man hier. Ihr seid wohl hungrig." "Doch, och, nee, nein." "Sagt doch die Wahrheit!" "Ja, etwas Hunger haben wir doch!" "So, na, nun haut man rein in die Spiegeleier, wir gehen solange in die Stube." "Na, Fritze, hau doch nich so rein, wie ausverschämt." "Ja, was, wenn ich Hunger haben!" "Du bist doch richtig so'n Vielfraß! Heute Abend im Bett werde ich dich mal kneifen. Na, lach doch nicht so laut!"[3]

Abmarsch, Richtung Brodten

Am Sonntag Morgen wird für die Falken zweimal die Kinderkomödie "Hans Urian geht nach Brot" von Béla Balázs im Hansatheater von Kinder-Schauspielern der Lübecker Falken aufgeführt.[4] Jede der beiden Aufführungen dürfen immer nur Falken aus bestimmten Lübecker Stadtteilen besuchen. Danach marschieren die beiden Gruppen jeweils zum Bahnhof und fahren mit einem Sonderzug Richtung Brodten.

Internationale Gäste

Am Donnerstag - einen Tag früher als erwartet - übernachten mehr als 50 Rote Falken aus Österreich und Tschechoslowakei in der Kinderrepublik, die sich auf dem Weg internationalen Arbeiterjugendtag in Kopenhagen befinden. Mit einem schnell improvisierten Festakt begrüßt sie der Lagerpräsident Hans Otto. Am Ende singen sie die "Internationale".

Am Freitag begleitete die gesamte Kinderrepublik mit 2000 Kindern im Marsch die Gäste nach Travemünde zum Dampfer, der sie zusammen mit Hamburger Falken und 60 Junggenossen aus Lübeck[5] nach Kopenhagen brachte:

"[…] als sich kurz darauf der Dampfer in Bewegung setzte, da war das Singen, das Freundschaftrufen und Winken hüben und drüben der überzeugendste Beweis dafür, wie nahe sich die deutschen und ausländischen Roten Falken in den zwei tagen gekommen waren. Wir zur Bekräftigung dieser ganz selbstverständlichen internationalen Kameradschaft, die Grenzen und Grenzpfähle spielend überwindet, stimmten zweitausend Rote Falken auf dem Heimwege das Lied an, das dem Geiste ihrer Bewegung den treffendsten Ausdruck gab: 'Nie, nie woll'n wir Waffen tragen… Nie, nie woll'n wir wieder Krieg…'[Anm. 1] Vom Schiff her über das Wasser ertönten die letzten Klänge der Internationalen."[3]

Eine Woche später durften die Kinder selbst im Lübecker Volksboten berichten, wie es ihnen bisher ergangen war. Sie bedanken sich für die großzügige Gastfreundschaft der Lübecker Arbeiterfamilien, die wie ihre eigenen Eltern oft gerade arbeitslos sein. Ein Bericht handelt von der Bahnfahrt aus Breslau, ein anderer von Konflikten über die Versorgung zwischen den "Bürgermeistern" und den Kindern aus Schlesien. Zwei Kinder seinen vor ihrer Abreise zum Zeltlager gestorben. Für die toten Genossen veranstaltete die Kinderrepublik eine Trauerfeier, die mit dem Lied "Brüder, zur Sonne zur Freiheit" endet.[3] Für den 20. Juli wurde ein großer Besuchertag angekündigt.[6]

Diphtherie im Lager

In der zweiten Woche kommt Erika Fellenberg von den Jungfalken mit der Diphtherie ins Krankenhaus und stirbt dort. Die Diphtherie wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch "Würgeengel der Kinder" genannt. Sie ist eine vor allem im Kindesalter auftretende, akute Infektionskrankheit, die durch eine Infektion der oberen Atemwege hervorgerufen wird.[Anm. 2] Das Kind hatte die Krankheit von zu Hause aus Danzig mitgebracht. Mit Hilfe des Arztes Dr. Diederichs wurden im Lager Maßnahmen getroffen, die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Es gab Gerüchte über den Ausbruch von Scharlach, die aber nicht zutrafen.[7] Der Besuchertag wurde vom Gesundheitsamt abgesagt. Es fand aber eine Radioübertragung aus dem Lager durch die Nordische Rundfunk AG (Norag) statt.[5] Am Sonnabend, den 19. Juli gibt es abends einen Infoabend für Eltern und interessierte Genossen im Gewerkschaftshaus.[8]

Anmerkungen

  1. Das Lied heißt "Rote Falken heraus!"
  2. Siehe Wikipedia: Diphtherie

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 Lübecker Volksbote, Ausgabe 153 vom 04.07.1930
  2. 2,0 2,1 Lübecker Volksbote, Ausgabe 154 vom 05.07.1930
  3. 3,0 3,1 3,2 Lübecker Volksbote, Ausgabe 161 vom 14.07.1930
  4. Lübecker Volksbote, Ausgabe 155 vom 07.07.1930
  5. 5,0 5,1 Lübecker Volksbote, Ausgabe 165 vom 18.07.1930
  6. Lübecker Volksbote, Ausgabe 162 vom 15.07.1930
  7. Lübecker Volksbote, Ausgabe 163 vom 16.07.1930
  8. Lübecker Volksbote, Ausgabe 166 vom 19.07.1930