Kinderrepublik Lübecker Bucht

Aus SPD Geschichtswerkstatt
Schwarz-Weiß-Foto in schlechter Qualität. Es zeigt ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen und einer Hand an der Hüfte vor Fahnen.
Die Genossin Bürgermeisterin, Cilly Fischer aus Bielefeld

Die Kinderrepublik Lübecker Bucht fand vom 5. Juli bis 1. August 1930 in Brodten am Theodor-Schwartz-Erholungsheim der Arbeiterwohlfahrt (AWO) statt. Aufgerufen dazu hatten die Kinderfreunde.

1927 hatte die erste deutsche Kinderrepublik in Seekamp bei Kiel stattgefunden. Schnell gab es weitere, etwa in der Lübecker Bucht. An der dortigen Organisation beteiligte sich auch der 16-jährige Herbert Frahm[1] (später: Willy Brandt).

Die Lübecker Arbeiterbewegung erwartete trotz der Rahmenbedingungen - drei Millionen Menschen waren zu dieser Zeit ohne Arbeit - 2000 Kinder aus dem gesamten Deutschen Reich, aus der Tschechoslowakei und Österreich.[2]

"Die bedrückende Wirtschaftslage mit dem Millionenheer von Erwerbslosen erschwert es den Arbeitereltern außerordentlich, die 40 bis 50 Mk aufzubringen, die für den vierwöchentlichen [sic!] Aufenthalt im Zeltlager zu bezahlen sind. Zwar hatten unsere Ortsgruppen schon sehr frühzeitig mit ihren Groschensammlungen bei den Eltern begonnen, aber selbst diese kleinen Beiträge übersteigen zeitweise das Können der Eltern. Dazu kam, daß die öffentlichen Körperschaften überall ihre Wohlfahrtsfonds reduziert hatten, und das Reich unter dem Zentrums-Innenminister und Preußen unter dem Wohlfahrtsminister [Heinrich] Hirtsiefer aus politischen Gründen stärkste Zurückhaltung in der Unterstützung der Kinderfreunde übte."[3]

Ablauf

Text: "Unseren roten Falken zum Gruß flaggt morgen jedes Arbeiterhaus! Wo ein Sozialist wohnt: Fahnen heraus!"
Aufruf im Lübecker Volksboten am Tag vor Beginn.
Junge schlägt eine Trommel
Junge schlägt eine Trommel

Am Sonnabend, dem 5. Juli, früh um 9 Uhr trafen sich die Roten Falken und Jungfalken zur Probe im "Haus der Jugend". Der Lübecker Volksbote machte an diesem Tag auf mit einem großen Foto (links) und einem Namensartikel von Kurt Löwenstein, dem Vorsitzenden der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde:

"[…] Unsere Falken machen keinen Ausflug, sondern sie kommen zu einer großen Tat zusammen, auf die sie vorbereitet sind durch jahrelange Erziehungsarbeit, zu einem Werk, in dem sie sich selbst wiederfinden wollen, in dem sie Kämpfer und Aufbauer von morgen sein werden. […] Zum erstenmal in dem Brodtener Lager soll mit Jung- und Roten Falken erprobt werden, bis zu welchem Grade die Selbstverwaltung und die Selbstverantwortung nach den beiden Altersstufen durchgeführt werden kann. Seit Kiel haben wir eine Menge Formen von Zeltlagern geübt, manches gelernt, aber auch manches als Tradition übernommen. Die Kinderrepublik Lübecker Bucht hat die große Aufgabe bekommen, einmal systematisch zu beobachten und dem Gedanken der Entfaltung der Kräfte der Kinder aus ihren eigenen Bedürfnissen eigenschöpferische Formen und Gestalt zu geben."[4]

Ausrufung der Republik

Am Nachmittag kamen die ersten Sonderzüge aus Richtung Kiel, Hamburg und Breslau in Lübeck an. Die Fahrkarten der Kinder wurden zu 75 % vom Land Preußen subventioniert. Um 18:30 Uhr traten die Teilnehmenden auf dem Burgfeld an. Dort sprachen Bürgermeister Paul Löwigt, der Reichstagsabgeordnete Julius Leber, Kurt Löwenstein und der Präsident der Kinderrepublik Hans Otto zu ihnen, und die Kinderrepublik wurde ausgerufen.[2]

Danach zog der Demonstrationszug vom Burgfeld über die Israelsdorfer Allee (heute: Travemünder Allee), Große Burgstraße, Geibelplatz, Engelsgrube, Schwönekenquerstraße, Beckergrube, Breite Straße, Sandstraße, Klingenberg, Mühlenstraße, St. Annenstraße, Balauerfohr, Hüxstraße und Königstraße zur Schrangenfreiheit.[4] Die Kinder wurden zunächst bei Lübecker Arbeiterfamilien untergebracht. Lübecker Falken halfen ihnen, ihre Quartiere zu finden. Im Lübecker Volksboten berichtete ein Kind von seinem Erlebnis an diesem Abend. "Fritz" wurde zusammen mit einem anderen Kind in einer Lübecker Familie untergebracht:

"So, nun kommt man mit mir mit. In diesem Hause wohnt ihr für zwei Tage. Ihr könnt doch wohl allein reingehen." "Selbstverständlich." "Na denn man Freundschaft!" "So Fritze, nun geh du man zuerst rein." "Nee, so dumm bin ich nicht." "Ach, all wieder mit deinem Quatsch. Denn mach ich eben die Tür auf." "Guten Abend." "Guten Abend." "Kommen wir hier richtig?" "Jawoll, kommt man rein!" "Geh doch zu, Fritze." "Ach, laß Dir doch Zeit." "So, nun setzt euch man hier. Ihr seid wohl hungrig." "Doch, och, nee, nein." "Sagt doch die Wahrheit!" "Ja, etwas Hunger haben wir doch!" "So, na, nun haut man rein in die Spiegeleier, wir gehen solange in die Stube." "Na, Fritze, hau doch nich so rein, wie ausverschämt." "Ja, was, wenn ich Hunger habe!" "Du bist doch richtig so'n Vielfraß! Heute Abend im Bett werde ich dich mal kneifen. Na, lach doch nicht so laut!"[5]

Abmarsch Richtung Brodten

Am Sonntagmorgen führten Kinder-Schauspieler der Lübecker Falken für ihre - nach Stadtteilen unterteilten - Gäste zweimal die Kinderkomödie Hans Urian geht nach Brot im Hansatheater auf.[6]

"In dem proletarisch-revolutionären Kindermärchen von Béla Balázs spielt der 16-Jährige Herbert Frahm die Hauptrolle. Er hat jedoch seinen Text nicht auswendig gelernt, so dass ihm die Souffleuse tüchtig vorsagen muss."[1]

Danach marschierten die beiden Gruppen jeweils zum Bahnhof und fuhren mit einem Sonderzug Richtung Brodten.

Internationale Gäste

Am Donnerstag - einen Tag früher als erwartet - übernachteten mehr als 50 Rote Falken aus Österreich und der Tschechoslowakei in der Kinderrepublik; sie waren auf dem Weg zum internationalen Arbeiterjugendtag in Kopenhagen. Mit einem schnell improvisierten Festakt begrüßte sie Lagerpräsident Hans Otto. Zum Abschluss sangen sie die Internationale.

Am Freitag begleitete die gesamte Kinderrepublik - alle 2000 Kinder - die Gäste nach Travemünde zum Dampfer, der sie zusammen mit Hamburger Falken und 60 Junggenossen aus Lübeck[7], u.a. auch Herbert Frahm[1], nach Kopenhagen bringen sollte:

"[…] als sich kurz darauf der Dampfer in Bewegung setzte, da war das Singen, das Freundschaftrufen und Winken hüben und drüben der überzeugendste Beweis dafür, wie nahe sich die deutschen und ausländischen Roten Falken in den zwei Tagen gekommen waren. Wie zur Bekräftigung dieser ganz selbstverständlichen internationalen Kameradschaft, die Grenzen und Grenzpfähle spielend überwindet, stimmten zweitausend Rote Falken auf dem Heimwege das Lied an, das dem Geiste ihrer Bewegung den treffendsten Ausdruck gab:

'Nie, nie woll'n wir Waffen tragen …
Nie, nie woll'n wir wieder Krieg …'[8]

Vom Schiff her über das Wasser ertönten die letzten Klänge der Internationale."[5]

Eine Woche später durften die Kinder im Lübecker Volksboten berichten, wie es ihnen bisher ergangen war. Sie bedankten sich für die großzügige Gastfreundschaft der Lübecker Arbeiterfamilien, die wie ihre eigenen Eltern oft gerade arbeitslos seien. Ein Bericht handelte von der Bahnfahrt aus Breslau, ein anderer von Konflikten über die Versorgung zwischen den "Bürgermeistern" und den Kindern aus Schlesien. Zwei Kinder seien vor ihrer Abreise zum Zeltlager gestorben. Für die beiden Toten veranstaltete die Kinderrepublik eine Trauerfeier, die mit dem Lied Brüder, zur Sonne zur Freiheit endete.[5]

Für den 20. Juli wurde ein großer Besuchertag angekündigt.[9]

Diphtherie im Lager

Jungs stehen vor einem großen Schild, das sagt "Kampf den Bazillen" und vermutlich Symbole zum Verhalten zeigt.
"Kampf den Bazillen" steht auf der "Rasenden Planke", dem Schwarzen Brett des Lagers

In der zweiten Woche kam Erika Fellenberg von den Jungfalken mit Diphtherie[Anm. 1] ins Krankenhaus und starb dort. Das Kind hatte die Krankheit von zu Hause aus Danzig mitgebracht. Mit Hilfe des Arztes Dr. Diederichs wurden im Lager Maßnahmen getroffen, die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern.[10] Die anderen Kinder aus dem betroffenen Zelt wurden untersucht und isoliert, bei fünf Kindern Diphtherie festgestellt. Trotz leichten Verlaufes wurden sie ins Kinderkrankenhaus gebracht.[11]

Es gab Gerüchte, u.a. über den Ausbruch von Scharlach, die aber nicht zutrafen.[10] Ein Kind hatte sich zwar tatsächlich mit Scharlach infiziert, aber niemanden angesteckt.[11] Der geplante Besuchertag wurde vom Gesundheitsamt abgesagt. Statt dessen brachte die Nordische Rundfunk AG (Norag) eine Radioübertragung aus dem Lager.[7] Am 19. Juli abends wurde zu einem Infoabend für Eltern und interessierte Genossinnen und Genossen im Gewerkschaftshaus eingeladen.[12]

Verschiedene Medien im ganzen Reich, etwa die Berliner Abendzeitung Tempo und die kommunistische Hamburger Arbeiterzeitung, berichteten über die angeblich "schreckliche Epidemie" und "schlechte Organisation". Dagegen teilte das Lübecker Gesundheitsamt mit:

"In dem Zeltlager 'Kinderrepublik Lübecker Bucht' befinden sich etwas 2300 Kinder. Es ist selbstverständlich, daß bei einer so großen Zahl von Kindern tagtäglich Erkrankungen meist leichter Natur vorkommen, und es kommt natürlich auch zuweilen vor, daß ein schwerer Erkrankungsfall sich ereignet."[13]

Nach acht Tagen wurden die Maßnahmen wegen des Diphtherie-Falls aufgehoben und das Lager wieder für Besuchende freigegeben. Ein neuer großer Besuchstag wurde für Sonntag, den 27. Juli, angesetzt.[11]

Aufbau

Das Zeltlager bestand aus über 100 Zelten, die sich in Dörfern und einem "Südstaat" für die Jungfalken und einen "Nordstaat" für die Roten Falken organisierten. Wer in das Lager wollte, brauchte Pass und Visum. Der Lagerpräsident war Hans Otto. Er vertrat das Lager nach außen, wie der Präsident der Weimarer Republik.[14]

Nach innen organisierten sich die Falken selbst auf demokratische Art. Jedes Dorf hatte einen Bürgermeister oder eine Bürgermeisterin. Die Dörfer im Nordstaat hießen u.a. "Rote Kämpfer", "Sonnenland", "Falkenhorst" und "Seekamp", in Erinnerung an die Kinderrepublik Seekamp. Im Südstaat hießen die Dörfer u.a. "Piepmannswalde", "Windige Höhe", "Luftiges Eck" und "Negerdorf". Das "Hungerdorf" wurde "aus Prestigegründen" in "Zum leeren Kochtopf" umbenannt.[14]

Über eine Lorenbahn, die "Freß-Lore", wurde das Lager versorgt. Die Küche lieferte täglich 4000 Liter Suppe, 600 Liter Milch und 30000 Stullen für die 2500 Kinder. Dabei halfen auch eine ganze Reihe Erwachsener. Die Küche war modern ausgestattet.[14]

Zum Besuchstag am 27. Juli kamen bei gutem Wetter 4000 Menschen zu Besuch - hauptsächlich Eltern oder die Lübecker Quartiersfamilien der auswärtigen Kinder. Die Kinderrepublik wurde fast überrannt. Für einen Festakt marschierten die Kinder zum Festplatz und nahmen Aufstellung, die erwachsenen Gäste um sie herum. Die Lagerkapelle spielte. Die Kinder waren als "Neger", "Chinesen" oder "Inder" verkleidet, die Kamele und Giraffen mit sich führten. "Neger" und "Chinesen" tanzten. "Araber" beteten "Allah ist groß" - ein Chor antwortete: "Die Lagerleitung ist noch größer". Ein Handballspiel zwischen der Lagerleitung und einer Kieler Falkenmannschaft gewannen die Kieler mit 11:2 Toren. Zum Abschluss marschierten die Kinder samt Fahnenschwenkern in einem "Marsch der Arbeit" noch einmal auf.[15]

Abschied

Am Freitag, dem 1. August, wurden nach vier Wochen die Zelte abgebaut und die Kinder reisten zurück in ihre Heimat.

"Es war ein voller Erfolg. In Sturm und Regen, in Schwierigkeiten mannigfachster Art hat die Kinderrepublik ihre Lebenskraft und ihr Lebensrecht erwiesen. Und wir Lübecker haben zum Abschied nur den einen Wunsch: Auf Wiedersehen im nächsten Jahr!"[16]

Fazit

Mit dieser Kinderrepublik wollte die Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde ausprobieren, wie weit die Selbstverwaltung der Kinder gehen kann. Das wurde allerdings durch die Gefahr einer Diphtherie-Epidemie und die dagegen erforderlichen Maßnahmen verhindert.[3]

Literatur

Anmerkungen

  1. Eine vor allem im Kindesalter auftretende, akute Infektionskrankheit der oberen Atemwege, hervorgerufen vom Diphtheriebazillus; kann zu lebensbedrohlichen Komplikationen und Spätfolgen führen. Zu dieser Zeit auch "Würgeengel der Kinder" genannt, weil es noch keine Impfung dagegen gab. Siehe Wikipedia: Diphtherie

Einzelnachweise

  1. 1,0 1,1 1,2 Schmidt, Wolfgang: Arbeiterjunge in Lübeck, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung
  2. 2,0 2,1 Lübecker Volksbote, Ausgabe 153 vom 04.07.1930
  3. 3,0 3,1 Löwenstein, Kurt: Die Kinderrepubliken des letzten Jahres - [Electronic ed.]. In: Arbeiterwohlfahrt - 5(1930), H. 23, S. 722-725 (Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2008)
  4. 4,0 4,1 Lübecker Volksbote, Ausgabe 154 vom 05.07.1930
  5. 5,0 5,1 5,2 Lübecker Volksbote, Ausgabe 161 vom 14.07.1930
  6. Lübecker Volksbote, Ausgabe 155 vom 07.07.1930
  7. 7,0 7,1 Lübecker Volksbote, Ausgabe 165 vom 18.07.1930
  8. Rote Falken heraus!
  9. Lübecker Volksbote, Ausgabe 162 vom 15.07.1930
  10. 10,0 10,1 Lübecker Volksbote, Ausgabe 163 vom 16.07.1930
  11. 11,0 11,1 11,2 Lübecker Volksbote, Ausgabe 170 vom 24.07.1930
  12. Lübecker Volksbote, Ausgabe 166 vom 19.07.1930
  13. Der Schwindel von der Epidemie in Brodten, Lübecker Volksbote, 24.7.1930, S. 5
  14. 14,0 14,1 14,2 Lübecker Volksbote, Ausgabe 171 vom 25.07.1930
  15. Lübecker Volksbote, Ausgabe 173 vom 28.07.1930
  16. Lübecker Volksbote, Ausgabe 176 vom 31.07.1930