Willy Brandt auf dem Landesparteitag 1971 in Flensburg

Aus SPD Geschichtswerkstatt

Die folgende Rede hielt Bundeskanzler und Parteivorsitzender Willy Brandt auf dem außerordentlichen Landesparteitag in Flensburg am 23. oder 24. Januar. Sie wurde über den SPD-Pressedienst verbreitet.

I.

Die Bundesregierung steht zu Beginn des Jahres 1971, des zweiten Jahres ihrer Arbeit, vor einer Fülle wichtiger Aufgaben, aber sie befindet sich insgesamt in einer guten Position. Das gilt auch für unsere Partei. Man kann trotz aller Gegenpropaganda sagen, daß der Jahresabschluß für 1970 durchaus erfreulich war, sowohl für das tägliche Leben der überwiegenden Mehrheit unserer Bevölkerung als auch für die Stellung und das Ansehen unseres Staates. Wir sind in der Außen- und in der Innenpolitik ein gutes Stück vorangekommen. Wirtschaftlich wurden die Erwartungen trotz der Sorgen um die gestiegenen Preise weit übertroffen. Die Koalition in Bonn arbeitet gut zusammen - im Bundestag ist noch keine einzige Abstimmung verlorengegangen. Die Landtagswahlen des vergangenen Jahres haben das Bündnis zwischen SPD und FDP gestärkt.

Es hat sich gezeigt, daß die Bonner Koalition mehr ist als ein an den Tag gebundenes Zweckbündnis. Die beiden Parteien sind seit geraumer Zeit aufeinander zugegangen. Die Struktur der FDP hat sich zugunsten einer fortschrittlichen Politik gewandelt. Wir unsererseits haben den Wert der sozial-liberalen Gruppierung für das, was in diesen Jahren notwendig ist, schätzen gelernt. Und wenn ich mir nach den Reden zum 18. Januar, also zur hundertsten Wiederkehr des Tages der Gründung des Bismarck-Reiches, noch ein Wort erlauben darf, dann diese Frage: Wieviel sozialer und wie viel demokratischer das Reich hätte sein und werden können, wenn schon damals eine enge Zusammenarbeit zwischen der Sozialdemokratie und dem liberalen Fortschritt möglich gewesen wäre.

Damit es kein Mißverständnis gibt: Ich habe hier nicht über die Zusammensetzung von Landesregierungen zu befinden. Ich habe zu Beginn eines wichtigen Landtagswahlkampfes darauf hinzuweisen, daß es um die Stärke und den Erfolg der Sozialdemokratischen Partei geht. Darüber soll sich niemand im Unklaren sein.

Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die gegenwärtige Zusammenarbeit im Bund eine schlichte politische Notwendigkeit ist. Dies bedeutet nun wiederum nicht - und dies erwartet auch unser Partner nicht -‚ daß wir unser Programm und unsere Ziele zugunsten dieser Zusammenarbeit einfach um jenen Teil kürzen, in dem die FDP nicht mit uns übereinstimmt. Kein loyaler Koalitionspartner kann dem anderen seine Vorstellungen aufzwingen; keiner kann den anderen aber auch davon abhalten, immer wieder neue vorwärtsweisende Vorstellungen gerade auf dem Gebiet der Gesellschaftspolitik und der inneren Reformen zu entwickeln und dann auch in die Tat umzusetzen.

II.

Ich will hier heute zur Innenpolitik sprechen. Mein außenpolitisches Programm ist bekannt, und ich habe davon nichts abzustreichen. Nur einige wenige Bemerkungen:

Nach den vielen Jahren des Stillstandes in der Entwicklung unserer Beziehungen zu Osteuropa stießen wir mit unseren neuen politischen Bemühungen auf ein enormes Interesse der Öffentlichkeit im In- und Ausland, in Ost und West. Wir haben weit mehr Zustimmung als Ablehnung gefunden. Dies erklärt sich daraus, daß der Wille zur Festigung des Friedens und daß die Bereitschaft zur Zusammenarbeit allgemein in Europa sehr stark ist. Man spürt, daß unsere Politik diesen beiden Zielen dient.

Ich gehe davon aus, daß für die Ostpolitik in diesem Jahr die wesentlichen Grundlagen gelegt sein werden. Im sachlichen Zusammenhang mit der Ratifizierung steht natürlich eine befriedigende, also bessere Regelung für Berlin. Das will ich nur noch einmal unterstreichen. Dies wird auch, davon bin ich überzeugt, ein Jahr wichtiger Fortschritte in der westeuropäischen Zusammenarbeit sein. Die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft steht an, ebenso eine Verständigung über die Schritte, die zur Wirtschafts- und Währungsunion führen sollen. Morgen abend werde ich nach Paris fahren und mit Präsident Pompidou auf der Grundlage der bewährten freundschaftlichen Beziehungen über diese Fragen sprechen, aber natürlich auch über andere Probleme, die uns gemeinsam beschäftigen und zu deren Lösung wir beitragen können. Ich habe gesagt und sage hier noch einmal, daß unsere Westpolitik und unsere Ostpolitik zusammengehören. Und eine wirkliche Entspannung in Mitteleuropa kann es natürlich auch nicht geben, wenn sich nicht auch eine Entspannung im Verhältnis zwischen den beiden Staaten in Deutschland ergibt. Wir werden im Bundestag in der kommenden Woche über die Lage der Nation diskutieren, und ich werde deutlich machen, daß diese Bundesregierung nicht ablassen wird, sich um eine reale Verbesserung der Beziehungen zu bemühen. Die - bis zu einem gewissen Grade verständliche - Sorge Walter Ulbrichts vor der Anziehungskraft sozialdemokratischer Politik, also vor dem, was er Sozialdemokratismus nennt, sein Versuch, die DDR noch mehr abzugrenzen und einzuigeln, wird die von uns erstrebte sachliche Entwicklung vielleicht verzögern, aber nicht aufhalten können. Die Opposition in Bonn hat zu all diesen Fragen leider wenig vorzubringen. Viele der Opponenten haben sich auf gehässige Kritik und scheinheilige Belehrungen beschränkt. Niemand hat die CDU/CSU daran gehindert, sich während der langen Jahre ihrer Regierungsführung um eine konstruktive Ostpolitik zu bemühen. Heute genügt es nicht mehr, in wortreichen Erklärungen den guten Willen zu beteuern. Die CDU muß sich sagen lassen, daß sie mehr als eine Chance verpaßt hat, das zu tun, was notwendig war. Auch für die westeuropäische Politik, wo ja vieles unbestritten ist, geht es nicht an, uns jetzt das vorzuwerfen, was während der Kanzlerschaft der CDU versäumt wurde.

So einfach darf man es sich nicht machen wollen. Wir sind für sachliche Auseinandersetzung und für das jeweils erreichbare Maß an Zusammenwirken in nationalen Fragen. Aber niemand wird uns hindern, das zu vertreten und durchzusetzen, was unserer Überzeugung nach erforderlich ist.

III.

Die neuen innenpolitischen Ansätze der vergangenen fünfzehn Monate sind durch die Konzentration des Interesses auf die Außenpolitik teilweise überschattet worden. Das habe ich bedauert. Aber es ändert nichts daran, daß wir das Regierungsprogramm zielstrebig durchführen. Es ist nun eine Binsenweisheit, daß eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung die Voraussetzung für eine wirksame Reformpolitik ist. Andererseits hat sich erwiesen - und dies ist ein Punkt, den die CDU und insbesondere Herr Stoltenberg nicht zu begreifen scheinen -, daß nur durch eine fortschrittliche Reformpolitik ein ständiges Wachstum der Wirtschaft garantiert werden kann. Und zwar deshalb, weil die Wirtschaft von vielen Leistungen des Staates, zum Beispiel im Bereich des Verkehrs und der Ausbildung, abhängig ist und weil der Leistungswille der Bevölkerung nur erhalten oder gesteigert werden kann, wenn ihr eine entsprechende soziale Sicherheit gewährleistet wird.

Der Abschluß des Bundeshaushalts 1970, die Verabschiedung des Haushaltsentwurfs 1971 und die bevorstehende Bundestagsdebatte über den Jahreswirtschaftsbericht sind eine gute Gelegenheit, einmal zurückzuschauen auf fünfzehn Monate Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung. Wenn man den Nebel der heißen Debatten und überzogenen Propaganda beiseite schiebt, dann wird man erkennen, daß das Jahr 1970 ein gutes Jahr war:

  • Die Arbeitsplätze waren so sicher wie selten zuvor.
  • Das außenwirtschaftliche Gleichgewicht wurde erreicht; selten zuvor mußte so wenig über die internationale Währungsordnung, von deren Funktionieren unsere Volkswirtschaft abhängig ist, geklagt werden.
  • 1970 war ein Jahr wirtschaftlicher Höchstleistungen.
  • 1970 ist es gelungen, den Boom zu bändigen und sein Auswuchern zu verhindern.

Sicher war der Preisauftrieb mit 3,8 Prozent unerfreulich. Aber alle die dramatischen Vergleiche mit den 3,7 Prozent von 1966 unterschlagen den Gesamtzusammenhang: 1966 stiegen die Realeinkommen kaum, die staatlichen Finanzen waren zerrüttet‚ der Preisanstieg auf dem Weltmarkt war vergleichsweise gering. Alles im Gegensatz zu 1970. Im vergangenen Jahr befand sich die Wirtschaft der Bundesrepublik mitten in einer weltweiten Hochkonjunktur. Diese Unterschiede zu unterschlagen, das nenne ich Demagogie. Denn jeder weiß, daß die wirtschaftliche Entwicklung hierzulande eng mit der Konjunktur unserer Partnerländer verbunden ist.

Wir sind bereit, die Wirtschafts- und Finanzpolitik der vergangenen fünfzehn Monate kritisch überprüfen zu lassen, wenn diese Kritik in ihrer Einseitigkeit und Arroganz nicht übersieht, daß Wirtschaftspolitik immer für die Zeit, die erst kommt, gemacht wird und damit unter einer gewissen Unsicherheit steht. Kritisch könnte man anmerken, daß wir wahrscheinlich die Aufwertung etwas zu niedrig angesetzt haben; kritisch könnte man anmerken, daß wir im Frühjahr 1970 zu viel über die wirtschaftspolitische Linie diskutiert haben. Ich muß allerdings ganz offen sagen, daß ich es für selbstverständlich halte, daß gestandene Politiker in diesen schwierigen Fragen auch einmal verschiedener Meinung sein können.

Wir lassen uns kritisieren, aber das, was die Opposition in den letzten eineinhalb Jahren vorgelegt hat, war in vielen Fällen nichts anderes als demagogische Schaumschlägerei. Die Bonner Opposition hat einen wahren Eiertanz aufgeführt. Sie hat Situationen falsch eingeschätzt, manchmal wider besseres Wissen, um der öffentlichen Meinung nach dem Munde zu reden; sie hat Stimung gemacht ohne Rücksicht darauf, daß die grobklötzige Stimmungsmache die wirtschaftliche Entwicklung immer beeinflussen und gefährden kann, weil jeder als Käufer, als Investierender oder Sparer am wirtschaftlichen Geschehen beteiligt ist. Damit meine ich natürlich nicht, die Opposition solle zur Wirtschaftspolitik schweigen; das liegt mir fern. Mir geht es um den Grad der Stimmungsmache und um den rücksichtslosen Umgang mit wirtschaftlichen Fakten und Gefühlen der Menschen. Die auffallendsten Widersprüche der CDU/CSU-Propaganda kann heute jeder nachprüfen.

Erster Widerspruch:

Im Herbst 1969 haben Herr Kiesinger, Herr Strauß, Herr Stoltenberg u.a. davon gesprochen, die Aufwertung der Deutschen Mark gefährde die Konjunktur und den Export. Das Konjunkturklima kühle sich ohne Aufwertung schon spürbar ab.

In Wirklichkeit kam damals weder die Abkühlung noch wurde der Export gefährdet. Ein Blick in die wirtschaftliche Gesamtrechnung des Jahres 1970 zeigt, wie gesund und wettbewerbsfähig die deutsche Industrie ist und wie notwendig die Aufwertung für das Außenhandelsgleichgewicht war.

Zweiter Widerspruch:

Während Strauß am 23. September 1969 noch meinte, die Konjunktur würde, wenn die Aufwertung käme, "ganz abgewürgt", und ihm dies noch im Oktober von allen seinen Nachrednern nachgebetet wurde, schaltete die ganze Opposition von einem Tag auf den anderen um. Im Winter 1969/70 war plötzlich nur noch Bremsen aktuell. Diese Schnellschalterei hat nichts mehr mit seriöser Wirtschaftspolitik zu tun. Unsere komplizierte Wirtschaft kann man mit derartigen Hebelschwüngen nur in Grund und Boden steuern. Die CDU/CSU scheint seit 1966 nichts dazugelernt zu haben.

Dritter Widerspruch:

Während des ganzen Jahres 1970 wurde der Bundesfinanzminister beschuldigt, eine expansive Haushaltspolitik zu betreiben. Nun liegt es in der Natur der Sache, daß ein Finanzminister vor Abschluß des Jahreshaushalts das Gegenteil kaum beweisen kann. Heute, nach Abschluß des Bundeshaushalts 1970 ist die CDU/CSU widerlegt. Bei einem Wachstum des Bruttosozialprodukts von mehr als zwölf Prozent stiegen die Ausgaben des Bundes nur um gut sieben Prozent; dabei waren neun Prozent eingeplant. Das nenne ich konjunkturgerechte Finanzpolitik, das nenne ich sparsame Haushaltsführung. Wenn es bei der Bonner Opposition ein Gefühl für Fairneß gäbe, dann müßten bei Finanzminister Möller Anerkennungsschreiben von Stoltenberg und Strauß eingehen.

Der vierte Widerspruch:

Von Juli bis November 1970 hat die CDU/CSU-Opposition gegen die Höhe der für 1971 geplanten Ausgaben polemisiert. Die hundert Milliarden seien prozyklisch und "konjunkturschädlich", meinte Herr Strauß am 24. September im Bundestag. Die Opposition forderte unentwegt eine Verringerung der für 1971 geplanten Ausgaben, weil der Ruf nach weniger Staatsausgaben immer zieht.

Im Dezember wollte die Opposition davon plötzlich nichts mehr wissen. Das Präsidium der CDU schwenkte am 16. Dezember 1970 auf die Linie der Bundesregierung ein. Nach der Devise "ein Mann - ein Wort" machte sich Herr Stoltenberg am 20. Dezember 1970 plötzlich Sorgen um die Arbeitsplätze, obwohl er bis kurz zuvor gegen Überbeschäftigung und für Dämpfung der Konjunktur gepredigt hatte. Hierzulande, wo man Sinn für Seriosität hat, wird man diese demagogischen Tricks durchschauen, denke ich. Jedermann ist heute froh, daß die Bundesregierung sich im vergangenen Jahr nicht von ihrem besonnenen Kurs hat abbringen lassen. Wenn wir den populären Bremsforderungen vom Sommer und Herbst gefolgt wären, hätten wir tief in Arbeitslosigkeit und Rezession hineingebremst. Da wir widerstanden haben, haben wir die Chance, daß sich die Konjunktur ohne Gefährdung der Vollbeschäftigung normalisiert.

Aber wir müssen auf eines gefaßt sein: Der Zynismus einiger, die auf der anderen Seite die wirtschaftspolitische Stimmungsmache in der Hand haben, geht sehr weit. Zur Zeit wird an einer Rezessionsstimmung gehäkelt. Wir haben das erkannt. Doch da sind wir gelassen und gut vorbereitet. Die Wähler in diesem Lande sollten den Theaterdonner, den ein vielfach widerlegter Oppositionssprecher in Wirtschaftssachen abläßt, genauso gelassen zur Kenntnis nehmen.

IV.

Die CDU/CSU hat versucht, das Thema der inneren Reformen zu verniedlichen, zu diskreditieren und wegzudiskutieren. Dabei wurde eine zweifache Taktik verfolgt. Die eine habe ich schon erläutert. Das war der Versuch, die Innenpolitik der Bundesrepublik durch eine hektische und demagogische Wirtschafts- und Preisdebatte und durch Krisenmache zu überlagern. Die zweite Taktik ist der Versuch, den politischen Gegner zu verteufeln. Hierzulande hört man fast täglich davon: es drohe "Klassenkampf und Enteignung", Joachim Steffen wolle "ein marxistisch-sozialistisches Gesellschaftssystem" einführen.

So die regionalen Demagogen. Aber diese regionale Wahlkampf-Variante ist nur der Ableger einer größeren Strategie zur Verhinderung von Reformen. Schon immer haben Reaktionäre versucht, den Reformen den Mantel der Revolution umzuhängen. Schon immer wurde, wer für mehr Gerechtigkeit und eine vernünftige Vorbereitung auf die Zukunft eintrat, zum Umstürzler und unsicheren Kantonisten erklärt.

Wir kennen diese Art der Manipulation. Mit daran ist die Weimarer Republik zugrunde gegangen. Diese Methode hat der Friedenspreisträger Gunnar Myrdal schon 1932 beschrieben. Er meinte damals: Nichts habe so sehr der Klarheit der Diskussion in sozialen Fragen Abbruch getan und zur Verschwommenheit der politischen Einstellung breiter Kreise beigetragen wie die Methode in allgemeinen, einfachen und einander ausschließenden Systemen zu denken. Myrdal wies damals schon darauf hin, daß es gar nicht um die scheinbar großen Alternativen gehe: Sozialismus oder Kapitalismus, Planung oder freie Marktwirtschaft, Privateigentum oder Vergesellschaftung.

Die vorhandenen Entscheidungsmöglichkeiten in der Gesellschaftspolitik sind weder so einfach noch so großartig. Auch nach 1945 war die Diskussion um die Organisation unserer Gesellschaft nicht frei vom Denken in falschen Alternativen.

Die Schwarz-Weiß-Malerei hat gerade in der Bundesrepublik tiefe ideologische Züge getragen - ideologisch in dem Sinne, daß sie Bewegung und Veränderung verhinderte.

In den letzten Jahren konnte man zeitweise glauben, daß die Reformdiskussion in der Bundesrepublik weggekommen sei vom Denken in radikalen Schablonen. Das war scheinbar eine Zwischenphase der Vernunft. Denn: Seit Bildung der sozial-liberalen Koalition versuchen einflußreiche konservative Kreise erneut, mit der großen Vereinfachung unser Volk zu falschen Entscheidungen zu verleiten und es damit lahmzulegen. Ich sage das mit Bedauern, aber ohne wehleidigen Unterton.

Denn: Hundert Jahre lang hat sich die Sozialdemokratische Partei von solchen Machenschaften nicht irre machen lassen. Hundert Jahre lang stand die Verbesserung der Lebensumstände jedes einzelnen Menschen durch Schritt für Schritt vorangetriebene Reformen im Zentrum unserer Arbeit. Hundert Jahre lang haben wir schwer kämpfen müssen gegen die Vereinfacher auf beiden Seiten. Gegen diejenigen, die behaupteten, Veränderung sei nur durch die "Diktatur des Proletariats" möglich‚ und gegen diejenigen, die uns in die Ecke der Revoluzzer drücken wollen, um damit Reformen zu verhindern und Privilegien zu erhalten. Wir müssen unserem Volk helfen, die Vereinfacher zu durchschauen. Nur dann kommen die Reformen voran.

Im gegenwärtigen Streit der Extremisten wird so getan, als hänge das Wohl der Menschen von der Entscheidung zwischen Scheinalternativen ab. Die einen tun so, als könne es neben dem "privaten Eigentum" überhaupt keine anderen Eigentumsformen geben, was einfach Unsinn ist. Andere tun so, als könne man mit der Veränderung der Eigentumsverhältnisse die soziale Lage der Menschen grundlegend verbessern. Das stimmt aber nicht.

Was macht die soziale Lage der Menschen aus? Wodurch wird sie bestimmt und wodurch wird sie verändert?

Sie wird bestimmt durch eine Vielzahl von Umwelteinflüssen und durch den Stand der Technik, durch institutionelle und soziale Regelungen, durch Konventionen und Gesetze. Wie die Menschen in diesem Land leben und wohnen, was sie verdienen, wie sie zur Arbeit und zur Erholung fahren, wie sie mit physischen und psychischen Belastungen fertig werden, das wird unter anderem bestimmt:

  • von der staatlichen Wirtschafts- und Finanzpolitik,
  • von dem Ausbau der Infrastruktur, der wesentlich dazu beitragen kann, die Arbeitsplätze zu sichern,
  • von der Organisationskraft der Gewerkschaften und anderer gesellschaftlicher Gruppen.

Wie die Menschen in diesem Land leben und wohnen, hängt ab:

  • von dem 1960 verabschiedeten Bundesbaugesetz, das über die Möglichkeit von Betonwüsten oder menschenfreundlichen Städten mitentscheidet,
  • auch davon, ob über Grund und Boden in den Städten ebenso verfügt wird wie über irgendeine andere Ware, auch von den für Wertsteigerungen geltenden Steuerregelungen,
  • von den Entscheidungen über das Verhältnis von Massenverkehrsmitteln und Individualverkehr und damit von den Mehrheiten bei politischen Entscheidungsprozessen, das heißt von Wahlen und Wählern.

Wie die Menschen in diesem Land leben, hängt ab:

  • von der geltenden Rentenregelung und der Planung einer flexiblen Altersgrenze,
  • von Entscheidungen oder Unterlassungen zum Umweltschutz,
  • von dem "Klassensystem" bisheriger Bildungseinrichtungen,
  • von Fortbildungssystemen und dem geplanten, wenn auch sicher nur stufenweise zu verwirklichenden gesetzlichen Bildungsurlaub,
  • von der neuen Straßenverkehrsordnung und den vom Arbeitsminister vorgelegten Rehabilitationsprogrammen, jetzt ganz konkret von der Entscheidung über den Bundeshaushalt 1971 und die für Schleswig-Holstein verfügbaren Mittel.

Hier muß ich doch noch einmal auf Herrn Stoltenberg zu sprechen kommen, der noch vor kurzem in einem Atemzug gefordert hatte: in Bonn, weil's dort populärer schien: Kürzung des Haushalts; in Schleswig-Holstein, weil's hier populärer ist: Erhöhung der Bundesmittel für das Land. Diese Dukateneselei hat Helmut Schmidt bereits im Bundestag entlarvt. Aber ich muß noch etwas hinzufügen: Es ist leicht, in Kiel über mehr Mittel für die Gemeinden zu reden, aber der so redet, muß sich fragen lassen, was er denn in Bonn in den vergangenen Jahren auf diesem Gebiet getan hat. Es redet sich leicht über die Sorgen der Landwirtschaft, die mir durchaus bewußt sind, aber der so redet, soll doch nicht so tun, als regierten wir in Bonn nicht erst seit fünfzehn Monaten, sondern seit fünfzehn Jahren.

Wie die Menschen in diesem Land leben, hängt ab:

  • vom Mut zu lebendiger Demokratie,
  • auch vom Charakter der Personen, die politische Verantwortung tragen.

Das alles und vieles mehr bestimmt das Leben der einzelnen Menschen. Einkommen und Einkommensverteilung, was in unserem Land produziert wird und wem es zur Verfügung steht, was für die Zukunft investiert wird und was verbraucht wird, wieviel Mitspracherecht und wieviel Freiheit der einzelne hat, ob er in Sicherheit oder in Angst vor der Zukunft, ob er in einem Land der Gerechtigkeit oder der Ungerechtigkeit lebt - darüber entscheiden viele, kleine und große, gesellschaftliche Regelungen. Alle diese Regelungen machen das sogenannte System aus. Die Gesellschaft verändern, das heißt: einzelne dieser Regelungen ändern. Nur dadurch kann die Lage der Menschen verbessert werden. Diese Arbeit am Detail nennen wir Innere Reformen.

Zu meinen, die Lage der Menschen ließe sich durch das Drehen an einer einzigen Schraube verändern, ist eine Illusion. Sie ist nur eine trügerische, nicht durchdachte Hoffnung, die sich bestenfalls zum Sammeln von politischen Heilsarmeen, nicht aber zur Veränderung der Gesellschaft eignet. Mindestens so illusorisch ist das konservative Nur-Beharren. Es ist eine böse Illusion zu meinen, ein System sozialer Regelungen sei, so wie es geworden ist, das beste und für alle Zeiten gültig - nur weil es geworden ist. Soziale Regelungen sind bestenfalls "gültig" für eine bestimmte Technik und eine bestimmte Umwelt. Beide ändern sich. Die Folge ist: Wer diese Änderungen nicht durch gesellschaftliche Reformen auffängt‚ verschlechtert die Lage der Menschen. Ein Beispiel:

Die Konservativen haben noch bis vor kurzem die Bestimmungen für die Reinhaltung unserer Flüsse und Seen für ausreichend gehalten. Ich habe bereits 1961 Umweltschutz gefordert. Damals hat man sich darüber lustig gemacht. Heute spüren die meisten: Damals wurde versäumt, durch neue Gesetze dafür zu sorgen, daß auch die Menschen der siebziger Jahre ohne Angst um ihre Gesundheit in unseren Flüssen und Seen baden können.

Im Süden Deutschlands droht der Bodensee auszusterben‚ zu einem stinkenden, toten Gewässer zu werden. Und hier im Norden läßt sich nicht mehr übersehen, daß der Ostsee eine ähnliche Gefahr droht. Wie der Rhein nicht mehr ist, was er sein sollte, so ist die Ostsee nicht mehr das, was sie war: verseucht und verschmutzt kann sie zu einem Beweis werden für Unfähigkeit von Staaten, die blind waren für die Probleme der Zukunft und immer noch weithin von der Hand in den Mund leben. Dieser Beweis kann auf vielen Gebieten angetreten werden. Daran sieht man: Gesellschaftliche Stabilität gibt es nur bei Reform. Wer nicht positiv verändert, verschlechtert die Lage der Menschen. - Das ist der Punkt, wo wir Sozialdemokraten uns von den Verfechtern der konservativen Beharrung grundlegend unterscheiden.

Die Konservativen waren in den sechziger Jahren vielfach nicht einmal zu angemessenen Reaktionen fähig: Als die SPD 1966 in die Bundesregierung eintrat, fand sie - neben den unbestreitbaren Leistungen der Nachkriegszeit - ein gesellschaftliches Erbe mit Krisenrissen vor, die die CDU lange Jahre übertüncht hatte. Aufgebrochen war die wirtschaftliche Krise: Arbeitslosigkeit und Strukturschwächen bei Kohle, Stahl und in vielen Regionen unseres Landes, mühsam übertüncht war das, was man zu Recht die öffentliche Armut nennt: die Verseuchung der Gewässer, die Verschmutzung der Luft, die Suche nach einem Studienplatz für den Sohn, nach einem Krankenhausplatz für die kranke Mutter, die Beunruhigung über mangelnde Leistungen der Kinder in überfüllten Klassenräumen, das Steckenbleiben in wichtigen Bereichen der Sozialpolitik.

Wenn die Konservativen heute fragen, wo denn die inneren Reformen bleiben, merken sie anscheinend gar nicht, daß sie auf ihre eigenen Versäumnisse zeigen. Sie versuchen, die Schwierigkeit auszunutzen, die darin besteht, daß wir zweierlei zugleich tun müssen. Wir müssen die vorher übertünchten Krisenrisse reparieren. Wir müssen und wollen zugleich gesellschaftliche Regelungen für die Zukunft schaffen. - Eine bewußt reformerische Partei wartet nämlich nicht, bis das Faß überläuft; sie stellt rechtzeitig die Weichen in die Zukunft.

V.

Dabei müssen wir uns selbstverständlich fragen lassen:

In welche Richtung gehen diese Veränderungen? Welche Ziele hat die SPD?

Nun, unsere prinzipiellen Zielsetzungen sind bekannt:

  • Soziale Gerechtigkeit
  • Umfassende Freiheit für den einzelnen Menschen
  • Gleichheit der Lebenschancen
  • Humanisierung der Gesellschaft
  • Demokratie in allen großen Lebensbereichen.

Das sind zunächst abstrakte Ziele. Sie werden konkretisiert am Ort des politischen Geschehens. In unseren Programmen wird versucht, den Bürgern eine Vorstellung davon zu geben, wie die großen Ziele in Reformarbeit zu übersetzen sind. Der Wähler‚ der über Parteien zu entscheiden hat, soll zwei Dinge erkennen können: Erstens: Die in den Programmen aufgestellten Zwischenziele entsprechen meinen Vorstellungen von einer humanen Gesellschaft - oder nicht. Und zweitens: Aus diesen Zwischenzielen müßten diese oder jene konkreten politischen Handlungen folgen.

Auf dem Weg über die Zwischenziele ist der Zusammenhang mit den großen Vorstellungen von einer freien und gerechten Gesellschaft einerseits und der politischen Arbeit der Verantwortlichen andererseits verstehbar‚ diskutierbar und kontrollierbar. Dazu einige Beispiele:

Wir sagen zum Beispiel: Mitbestimmung!

Für den Wähler, dem wir diese abgeleitete Zielvorstellung anbieten, ist der Zusammenhang zum Ziel Gleichheit, Freiheit und Emanzipation noch deutlich. Zugleich liefert der Programmpunkt Mitbestimmung eine Handlungsanweisung für konkrete Gesetzesvorhaben, zum Beispiel für das Betriebsverfassungsgesetz oder das Hochschulrahmengesetz. Beides, der Zusammenhang mit der großen Zielvorstellung und mit dem konkreten Gesetzesvorhaben ist verständlich und kontrollierbar. Und das ist wichtig.

Wir sagen zum Beispiel: Chancengleichheit!

Das heißt: Wir wollen die Gewichte zugunsten der Schwächeren verschieben. Auch hier ist erkennbar, woraus wir diese Ziele ableiten. Und es wird deutlich, was dies für das Bildungssystem, die Alterssicherung, die Vermögensbildung zu bedeuten hat.

Diese Erläuterungen mögen zunächst etwas theoretisch erscheinen; sie sind ganz praktisch gemeint. Ein Land ist umso demokratischer, je kontrollierbarer der Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß ist, der sich über die Parteien vollzieht. Das wird deutlich werden, wenn ich gleich von den Leerformeln spreche, mit denen die Konservativen seit Jahren ihre Privilegien verteidigen. Je deutlicher Zielvorstellungen einer Partei im Programm fixiert sind und je genauer die Politik daraufhin nachprüfbar ist, desto geringer ist die Möglichkeit zur Manipulation der Bürger.

Die Gesellschaft - darüber sollten wir uns im klaren sein - ist nicht von Natur aus erneuerungsfähig. Die Vorstellung der Konservativen, eine Gesellschaft bewege sich immer aus eigenem Antrieb auf die Lösung ihrer Probleme zu, ist falsch. Auf die Politik kommt es an und darauf, wer sie macht. Man braucht nur Schleswig-Holstein und Hessen zu vergleichen, deren wirtschaftliche Bedingungen in den fünfziger Jahren gar nicht so verschieden waren. Hier ein Land, dessen Bürger mangels vorausschauender Strukturpolitik und wegen der miserablen Agrarpolitik der CDU in Bonn und Kiel heute vielfach noch um ihren Arbeitsplatz bangen müssen; dort das sozialdemokratisch regierte Land Hessen, das sowohl die Sorgen um den Arbeitsplatz beseitigt, als auch viel mehr Chancengleichheit verwirklicht hat.

Daß Verhältnisse durch Politik zum Guten verändert werden können, das verleiht unserer Partei seit Jahrzehnten Kräfte, das macht den Einsatz aller Kräfte lohnend. Diese unsere Hoffnung beruht auf Lebensnähe und Erfahrung.

Überall, wo die Vernachlässigung der Strukturpolitik offenbar ist, muß neu angesetzt werden. Personelle Retuschen helfen nicht gegen strukturelle Schwächen. Wir haben von Bonn aus zu handeln begonnen. Der konzentrierte Einsatz der regionalpolitischen Mittel und die Anwendung der Erkenntnisse der modernen Standortforschung, wie sie von unserem Bundeswirtschaftsminister angewendet wurden, zeigen bereits ihre ersten Erfolge. Seit Sozialdemokraten die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik haben, ist auch der finanzielle Aufwand für regionalpolitische Maßnahmen verstärkt worden.

Dafür nur ein Beispiel:

Während 1966 die für die Regionalförderung in Schleswig-Holstein bereitgestellten Bundesmittel 33 Mio DM betrugen, waren es 1970 53,5 Mio. Ein Zahlenbeispiel nur, das zeigt, wie ernst es der Bundesregierung unter sozialdemokratischer Führung mit der Förderung der wirtschaftsschwachen‚ bisher vernachlässigten Regionen ist.

Die Erneuerung einer Gesellschaft ist - wie ich sagte - keine Selbstverständlichkeit. Ich möchte etwas mehr darüber sagen, worauf es ankommt, wenn wir gut und rasch genug weiterkommen wollen.

1. Worauf es ankommt: Wir müssen den Menschen Reformpolitik verständlich machen.

Und die ist etwas schwerer zu verstehen als die denkfaule Formel "keine Experimente".

Wir kommen nicht daran vorbei: Reformen brauchen Zeit. Ein Beispiel: Die Arbeit, die in die Bestandsaufnahme der Bundeswehr gesteckt wurde, wird jetzt in Reformen umgesetzt. Zum Teil profitieren erst spätere Jahrgänge von dem, was heute durchgesetzt wird.

Wir kommen nicht daran vorbei: Reformen lüften zunächst einmal den Schleier scheinbar trügerischer Sicherheit und Selbstverständlichkeit. Eingefahrene Gleise werden verlassen, einige Menschen werden unsicher. Ein Beispiel: Eine Stadt, die die Ausweitung des Individualverkehrs beschränken will zugunsten des für die Gemeinschaft erforderlichen öffentlichen Nahverkehrs, wird zunächst nicht den Beifall aller Autofahrer finden, obwohl später alle davon profitieren könnten.

Konservative Politiker nutzen die Chance des Rückgriffs auf die Geborgenheit, auf eine Scheingeborgenheit‚ wie ich meine. Die CDU/CSU und ihre führenden Repräsentanten haben jahrelang politisch zu einem wesentlichen Teil von leeren Formeln gelebt. Der Vorstandsentwurf zur Fortschreibung des Berliner Programms der Union zeigt, daß sie gewillt ist, diese Politik der Leerformeln fortzusetzen. Sie hat - wie es so schön heißt - die "soziale Marktwirtschaft" wieder in den Vordergrund gerückt. Sie hat zugleich vieles, was dieses Wunschbild besser rea1isieren würde, gestrichen. So jeden konkreten Vorschlag zur Verbesserung des seit zehn Jahren überfälligen Kartellgesetzes; so die Forderung nach einer stärkeren steuerlichen Erfassung von Großvermögen, die im Entwurf enthalten war.

Jenes neue Programm scheint mir zu zeigen, daß man fortfahren will mit der alten Taktik: Hinter der Formel von der sozialen Marktwirtschaft soll möglich sein, was weder etwas mit Marktwirtschaft noch mit sozialer Gerechtigkeit zu tun hat. Ich möchte den Bonner Wirtschaftsjournalisten sehen, der der Union im Ernst zutraut‚ den Wettbewerb so zu schützen und zu stärken, wie das die großen Verfechter der Marktwirtschaft für notwendig gehalten haben. Die CDU verstärkt zur Zeit zwar ihre Bekenntnisse zur "sozialen Marktwirtschaft"... Aber daraus ergibt sich kein Zwang zum Handeln, sondern eher die Versuchung, die andere große Partei in die antimarktwirtschaftliche Ecke schieben zu wollen.

Jenseits des Geredes und der Propaganda muß einmal die Frage auf den Tisch: Warum hat die CDU, als sie die Macht und die Zeit hatte, das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen nicht novelliert, obwohl weithin erkannt wurde, daß der Wettbewerb weiteren gesetzlichen Schutzes bedarf? Wer zieht heute die Fahne ein, wenn es zum marktwirtschaftlichen Schwur kommt? Wir Sozialdemokraten nicht.

Die Konservativen, ich sage es noch einmal, haben die Wirklichkeit mit Formelkram überlagert. Das mag verlockend gewesen sein. Viele wurden emotional befriedigt. Wir haben eine gegenteilige Erfahrung gemacht. Diese Bundesregierung hat ein Jahr lang gut gearbeitet. Man hat uns draußen nicht immer gut verstanden.

Wir werden die Aufklärung und die politische Bildung verstärken. Wir werden aber, auch unter dem Druck, uns verständlich machen zu müssen, die Art und Systematik unserer Reformarbeit nicht zugunsten populärer Formeln aufgeben. Ich weiß, daß daran eine Partei, die im Wahlkampfclinch steht, schwer schluckt. Aber auch gegen Zyniker ist Kraut gewachsen: Erfolge, erste Ergebnisse unserer Reformpolitik. Früher wurde ohne Erfolg, weil halbherzig, jahrelang an den Dingen gewerkelt, die wir im ersten Anlauf geschafft haben. Man muß den Menschen diese Beispiele nennen:

Einmal: Vermögensbildung bzw. qualifizierte Sparförderung. Was ist dort geschehen? Wir haben sofort mit einer Teilreform begonnen: Verdoppelung des Begünstigungsrahmens‚ Umstellung auf eine einheitliche Sparzulage von dreißig bis vierzig Prozent und Einführung einer Einkommensgrenze. Damit ist eine große Ungerechtigkeit des alten Vermögensbildungsgesetzes ausgeräumt. Früher waren rund vier Millionen Arbeitnehmer praktisch von den Vorteilen des 312-Mark-Gesetzes ausgeschlossen, weil sie überhaupt nicht steuerpflichtig waren. Die Betroffenen haben auf das 3. Vermögensbildungsgesetz positiv reagiert: Während in der vierjährigen Geltungsdauer des 2. Vermögensbildungsgesetzes rund fünf Millionen Arbeitnehmer Leistungen erhielten, werden 1970 rund zwölf Millionen Arbeitnehmer von den verbesserten Möglichkeiten dieses Gesetzes Gebrauch gemacht haben.

Zum anderen: Sozialpolitik. Die Leistungen der Kriegsopferversorgung wurden angehoben, strukturell verbessert und sind ab 1971 dynamisiert worden. Die Regierung Erhard ist über dieses Thema gleich zu Anfang gestolpert und hat sich nie wieder richtig davon erholt. Wir haben diesen Reformpunkt in den ersten hundert Tagen abgehakt. Am 21. Dezember 1970 ist das zweite Krankenversicherungsänderungsgesetz verkündet worden. Dieses Gesetz bringt eine Dynamisierung der Versicherungspflichtgrenze, führt den Arbeitgeberanteil auch für jene Angestellten ein, die oberhalb dieser Grenze liegen, erlaubt den Eintritt zusätzlicher Bevölkerungsgruppen in die Krankenversicherung und - und das ist ganz entscheidend - sieht erstmals die Einführung von Vorsorgeuntersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten vor.

Auch an diesen Aufgaben haben sich frühere Bundesregierungen glücklos versucht. Man muß sich diesen Unterschied immer wieder bewußt machen, um zu verstehen, was in der Koalition zwischen Sozialdemokraten und Freien Demokraten im Gegensatz zu anderen Kleinen Koalitionen immerhin möglich ist.

2. Worauf es ankommt: Auf ein klares, zeitlich und finanziell kalkuliertes Programm, also auf Planung.

Im Jahr 1971 haben wir uns vorgenommen:

  • a) die parlamentarische Behandlung des neuen Betriebsverfassungsgesetzes‚
  • b) die Verabschiedung des Städtebauförderungsgesetzes,
  • c) die Öffnung der Rentenversicherung für weitere Bevölkerungsgruppen,
  • d) die Einführung einer gesetzlichen Krankenversicherung für Landwirte,
  • e) Reform und Ausbau des Bildungswesens; hierzu gehört im Frühsommer die Vorlage des Bildungsgesamtplanes durch die Bund-Länder-Kommission.

Mit Amusement habe ich zur Kenntnis genommen, daß gerade die Opposition nach der Planung der inneren Reformen fragt. Wir haben die Vorhaben meiner Regierungserklärung vom Oktober 1969 längst in einem Schwerpunkte-Programm konkretisiert, finanziell durchgerechnet und zeitlich geplant. Die Fragen der CDU gehen also ins Leere. Sie sind obendrein verwunderlich, weil diese Partei früher weder fähig noch willens war, Prioritäten zu setzen, nach vorn zu planen - wegen ideologischer und anderer Vorbehalte. Vorausschau war gestern auf der anderen Seite noch verpönt.

3. Worauf es ankommt: Auf mehr Einfallsreichtum und Einfühlungsvermögen, auf mehr Sinn für neue Wege.

Aber auch auf mehr Phantasie für das, was die Lage der Menschen wirklich ausmacht. Das ist nicht nur die Versorgung mit Gütern. Das ist nicht nur der sichere Arbeitsplatz. Ich möchte an einem Beispiel zeigen, was ich meine:

Die CDU hat es nicht am Geld für die Landwirtschaft fehlen lassen. Ihnen fehlte jedoch jede tiefere Einsicht in die psychischen Folgen ihrer Agrarpolitik: Wenn Menschen über zwanzig Jahre hinweg zwischen Hoffnung und wirtschaftlicher Auszehrung gehalten werden, dann geraten sie unter einen seelischen Druck, dem sie nur schwer gewachsen sind. Trotz aller Beteuerungen hat die Union nicht einen Krümel Phantasie für die wirkliche Lage der Bauern aufgebracht.

Joachim Steffen hat in diesem Land den Mut, den Landwirten zu sagen, wie es um sie steht und worin wir die Lösung ihrer wirtschaftlichen Probleme sehen. Allein diese Ehrlichkeit und dieser Mut verdienen, durch Vertrauen belohnt zu werden.

4. Worauf es weiter ankommt: Auf die Offenheit in der Wahl der Mittel und gesellschaftlichen Steuerungselemente.

Wir wehren uns gegen eine ideologische Festlegung auf bestimmte Regelungen und Institutionen. Sie werden im Interesse der Menschen eingesetzt. Sie müssen es sich gefallen lassen, von Zeit zu Zeit kritisch geprüft zu werden.

Wir wehren uns gegen eine Ideologisierung von beiden Seiten. Das meistdiskutierte Beispiel: Privates Eigentum ist eine vom Grundgesetz garantierte Institution unserer Gesellschaft. Aber in der Verfassung steht auch, daß Eigentum sozial verpflichtend ist. Wo es dieser Funktion nicht gerecht wird, muß also der Gesetzgeber die sogenannte Sozialbindung herstellen. Die Schelle der Eigentumsfeindlichkeit lassen wir uns nicht umhängen.

Auch öffentliches Eigentum ist in unseren Augen keinesfalls Ziel an sich, sondern Mittel im Dienst am Menschen. Die Gleichsetzung von öffentlichem Eigentum und Glück der Menschen ist durch nichts gerechtfertigt. - Ich sehe keine andere Partei in der Bundesrepublik, die diese Fragen auf ebenso ideologiefreie Weise betrachtet.

5. Worauf es weiterhin ankommt: Auf eine genaue Analyse der Wirklichkeit und der Wirkung von Reformen.

Realitätsbezug und Analyse der komplexen Wirklichkeit sind Voraussetzungen für effektive Maßnahmen. Wer ein neues Betriebsverfassungsgesetz vorlegt, der muß sich genau überlegen, wie er aus dem heutigen Auseinanderklaffen von geschriebenem Recht und Wirklichkeit herauskommt.

Gute Analysen helfen häufig auch klarzumachen‚ daß bei fortschrittlicher Gesellschaftspolitik viele gewinnen, ohne daß andere verlieren. Fortschrittliche Gesellschaftspolitik ist auf lange Sicht ein Gewinn für alle.

6. Jahrelang hatten wir uns mit dem Vorwurf herumzuschlagen, unsere Vorstellung von mehr Demokratie in Gesellschaft und Wirtschaft widerspreche dem Leistungsprinzip, und unsere Forderung nach Mitbestimmung lasse sich in komplexen modernen Organisationen nicht durchsetzen.

Ich glaube: Die Zeit hat für uns gearbeitet. Demokratie und Leistung sind kein Gegensatz. Mitbestimmung lohnt sich bei komplexen Organisationen auch wegen des Zwangs zur Dezentralisierung in komplexen Organisationen. Außerdem setzt sich langsam die Erkenntnis durch, daß Menschen nicht nur des Geldes wegen arbeiten. Es gibt andere Anreize, wenn man so will: menschlichere. Vielleicht können wir in zehn Jahren besser erkennen, daß Arbeit um so leichter fällt, je mehr man sie unter eigener Entscheidung und in eigener Verantwortung tun kann.

7. Worauf es ankommt: Eine Partei, die den Menschen dieses Landes helfen will, muß möglichst frei sein von den egoistischen Interessen der bisher Privilegierten.

Wer eine sorglose Erziehung genossen hat, hat möglicherweise weniger Verständnis dafür, daß die Bildungsausgaben für Arbeiterkinder erhöht werden müssen. Das muß nicht so sein. Aber: Nur so kann ich mir die hausbackene Warnung vor mehr Ausgaben für ein neues Bildungssystem erklären, die beispielsweise Herr Stoltenberg verkündet hat.

Wer besondere Interessen vertritt, der hat sicher die Streichung des Satzes "Die Erbschaftssteuer ist für Großvermögen anzuheben" im CDU-Programm begrüßt. Ich kann die Mehrheit der CDU nicht hindern, dies zu tun. Aber ich meine, daß der Mittelstand in Deutschland erkennen sollte, daß es bei dieser Streichung nicht um seine Belange ging.

Es ist mehr als konservative Voreingenommenheit, wenn führende Unionspolitiker im Lande herumreisen und jenen, die von unseren Überlegungen zur Steuerreform überhaupt nicht belastet werden, Angst einzujagen versuchen. Das ist der zu Anfang zitierte Mechanismus: Um die notwendige Reform im Detail, um die Reform des Augenmaßes zu verhindern, wird der Popanz des totalen Umsturzes aufgebaut.

8. Worauf es auch ankommt: sich den Stiefkindern der Gesellschaft zuzuwenden.

Das ist Tradition und heutiger Auftrag der Sozialdemokratischen Partei. Der parlamentarisch-politische Prozeß begünstigt gut organisierte Gruppen, solange Parteien am Ruder sind, die auf diese Gruppen und nur auf diese reagieren. Dieses Reagieren auf die Wünsche mächtiger und lautstarker Gruppen ist charakteristisch für konservative Parteien. Sie halten die Wünsche der Gruppen für bare Münze, ohne zu prüfen, inwieweit sie gesellschaftlich sinnvoll sind.

Es wäre nicht sozialdemokratisch, wenn wir uns ein Bündel von Zielgruppen zusammenstellen und unsere Politik an isolierten Interessen dieser Gruppen ausrichten würden. So hat es die CDU gemacht, jahrelang. Bei uns ist das anders. Als Bundeskanzler und als Parteivorsitzender könnte ich das auch gar nicht mitmachen.

Unser Auftrag, ich sage es noch einmal, sind die Stiefkinder der Gesellschaft: In der Bundesrepublik leben viele Arbeiter und Angestellte ohne berufliche Perspektiven. Diesen Leuten wollen wir helfen, ebenso wie wir uns ohne billige Versprechungen um die Selbständigen einschließlich der Landwirte kümmern. Mit einer Wirtschaftspolitik, die durch Erhaltung der Vollbeschäftigung den Arbeitsplatz sichert. Mit einer Politik der beruflichen Weiterbildung. Und wir wollen helfen durch den Übergang zur flexiblen Altersgrenze. Wir wollen den Lastenausgleich unter den Generationen. Wir wollen die Alten entschädigen für die Aufbauarbeit, die sie geleistet haben.

In der Bundesrepublik leben drei Millionen Frauen ohne Mann. Viele haben ihn im Krieg verloren. Es gibt keine Ideologie, die diesem Schicksal gerecht wird. Auch unsere Friedenspolitik, die das mörderische Unternehmen "Krieg" für die Zukunft vermeiden will, hilft diesen Frauen nicht mehr. Uns bleibt nur, ihre soziale Lage, ihre Alterssicherung, ihre Versorgung mit medizinischen Leistungen und ihren rechtlichen Status zu verbessern. Von ihnen wird übrigens kaum geredet, wenn es um die Reform des Familienrechts geht. Traditionelle Phantasielosigkeit?

9. Worauf es ankommt: Unsere Gesellschaft ist nur erneuerunsfähig, wenn die politischen Parteien intakt sind.

Wenn sie demokratisch organisiert, wenn sie durchlässig sind und ohne Klüngelei, wenn ihre Mitglieder wach sind. Das setzt viel innerparteiliche Diskussion voraus. Das ist nicht immer einfach, denn die Öffentlichkeit hat manchmal wenig Sinn für die notwendige Diskussion. Bessere Aufklärung erfordert eine klare Unterscheidung zwischen staatspolitischer Verantwortung und innerparteilicher Meinungsbildung. Hier darf ich mich einmal selbst zitieren:

"Unsere Partei ist kein Diskutierklub, sondern eine politische Gemeinschaft, die die Verhältnisse verändern - nicht bloß unterschiedlich interpretieren - will. An der Solidarität der Partei und an ihrer Handlungsfähigkeit darf nicht gerüttelt werden."

Nur durch verständliche Aussagen und tatkräftiges Handeln kann unsere Partei zusätzliches Vertrauen gewinnen. Es fehlt nicht an Gerüchtemachern, die Unfrieden in unsere Reihen tragen möchten. Dies bleibt die Partei des Godesberger Programms. Dazu gehört geistige Lebendigkeit, dauernde Selbstprüfung und unermüdliche Vorbereitung auf die Zukunft. Dem außerordentlichen Parteitag im Herbst 1971 kommt eine große Bedeutung zu. Er muß die ihm übertragenen Aufgaben mit einem Höchstmaß an Sachkunde lösen und darf dabei nicht aus dem Auge verlieren, daß über die nächste Bundestagswahl schon zu einem wesentlichen Teil mitentschieden wird. Ich bitte um noch mehr Mitarbeit, damit eine im Innern lebendige und nach außen mobile Sozialdemokratische Partei ihre Aufgaben im Interesse unseres Volkes gut erfüllen kann. Dabei freue ich mich, daß sich die Mitarbeit nicht auf Mitglieder der Partei allein beschränkt. Es ist gut, daß auch in Schleswig-Holstein eine Wählerinitiative entstanden ist, und ich weiß es sehr zu schätzen, daß sich Siegfried Lenz an ihre Spitze gestellt hat.

10. Worauf es außerdem ankommt: Auf die Personen im politischen Geschäft.

Gesellschaftlich rationales Handeln kann man letztlich institutionell allein nicht absichern.

Hier in Schleswig-Holstein tritt die SPD mit Joachim Steffen an. Ich mag ihn, weil er kämpft, zu seinen Überzeugungen steht und selbst dort, woe andere bierernst werden, nicht den Humor verliert: Ein oft unbequemer, aber niemals die Wahrheit beugender, moderner Politiker. Man nennt ihn den "roten Jochen". Dabei mag es bleiben. Denn wir lassen uns die schöne Farbe "Rot" von niemandem, auch von jenen nicht vermiesen, die sie entweder mißbraucht haben oder aufgrund schlechten Gewissens als schockierend empfinden. Ich bin überzeugt, daß Jochen Steffen als Ministerpräsident dem Land Schleswig-Holstein und seinen Bürgern pragmatisch und zielbewußt die Zukunft erschließen wird. Wir alle sollten ihm helfen. Damit dieses Land nicht weiter hinter der Zeit herhinkt.

VI.

Es gibt noch ein Gebiet, auf dem es darauf ankommt‚ daß wir uns keine falsche Schelle umhängen lassen. Deshalb habe ich im Dezember bei den Jungsozialisten in Bremen gesagt:

"Unsere praktische Politik beweist, daß wir frei sind von primitivem Anti-Kommunismus. Aber wo kommen wir hin, wenn wir nicht - neben der Bereitschaft zur Entspannung und zur Verständigung der Völker - auch in aller Deutlichkeit sagen, welches die gegensätzlichen Positionen und Überzeugungen sind! Die Kommunisten tun es, wir tun es. Jeder soll wissen, was er praktisch-politisch und grundsätzlich vom anderen zu halten hat ...
Zur Glaubwürdigkeit der SPD gehört, daß die prinzipiellen Gegensätze gegenüber dem Kommunismus nicht verkleistert werden. Dies ist besonders nötig in einer Zeit, in der wir die Beziehungen zu den kommunistisch regierten Staaten normalisieren ... Für die SPD bleibt es dabei, daß Sozialismus und Demokratie unlösbar zusammenhängen."

Ich sagte weiter:

"Natürlich wissen wir, daß die internationale kommunistische Bewegung längst kein monolithischer Block mehr ist. Aber wir haben uns in diesen Prozeß nicht einzumischen. Wir müssen unseren eigenen Weg bestimmen. Für uns gibt es keine Aktionsgemeinschaft mit kommunistischen Organisationen. Und erst recht nicht sollten wir uns als Blutspender hergeben für Sekten aller möglichen Schattierungen, die sich teils durch Spaltung fortpflanzen, teils aber auch durch ihre unkontrollierten Äußerungen und exhibitionistischen Aktionen willkommene‚ wenn auch nicht bewußte Helfer unserer Gegner sind. Die Abgrenzung, um die es hier geht, ist weder ein blindes Anti, noch soll sie die geistige Auseinandersetzung verhindern. Im übrigen, die Behauptung von der Unmöglichkeit der ideologischen Koexistenz haben nicht wir erfunden. Wir sind und bleiben bereit zur geistig-politischen Auseinandersetzung. Das erfordert aber eine unmißverständliche Haltung unsererseits. Mit anderen Worten: Wir müssen uns einig sein, daß wir die Auseinandersetzung als Sozialdemokraten führen."

Im übrigen möchte ich hier an eine geschichtliche Erfahrung anknüpfen und an eine Persönlichkeit erinnern, die - wie ich selbst - aus Lübeck kam. Ich meine Thomas Mann, der als ursprünglich Konservativer in der schwersten Zeit der Weimarer Republik das freiheitliche Bürgertum aufforderte‚ sich an die Seite der Sozialdemokraten zu stellen. In einer großen politischen Rede wies Thomas Mann 1930 darauf hin, daß es vor allem das Phantom und begriffliche Schreckgespenst des "Marxismus" sei, das dem deutschen Bürgertum die politische Orientierung erschwere. Damit werde ein schlauer und schädlicher Mißbrauch getrieben. Dabei müßte jeder den scharfen und tiefen Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus kennen. Die deutsche Sozialdemokratie habe sich allem Marxisten-Schreck zum Trotz einer dreifachen Aufgabe gewidmet.

"Sie bemüht sich erstens, die soziale und wirtschaftliche Lebenshaltung der arbeitenden Klasse zu schützen und zu bessern, sie will zweitens die doppelt bedrohte demokratische Staatsform erhalten, und sie will drittens die aus dem demokratischen Staatsgeist sich ergebende Außenpolitik der Verständigung und des Friedens verteidigen."

So ist es heute wieder. Dafür stehe ich in Bonn und dafür steht Joachim Steffen in Schleswig-Holstein.