SPD-Parteitag 1927, Kiel

Aus SPD Geschichtswerkstatt
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Der SPD Parteitag 1927 fand vom 22.-27. Mai in Kiel statt. Er wird üblicherweise als "Reichsparteitag" bezeichnet; es fällt jedoch auf, dass der Begriff in den zeitgenössischen Berichten dazu nicht verwendet wird.

Organisation

Titel der Kieler Broschüre zum Sozialdemokratischen Parteitag 1927

Die Organisation des Parteitags forderte die Kieler Parteiorganisation stark, wurde aber allgemein als sehr eindrucksvoll bewertet.

"1927 brachte es die Kieler sozialdemokratische Parteiorganisation fertig, ganz Kiel im Banne des Sozialdemokratischen Parteitags zu halten. Der sozialdemokratische Verein Groß-Kiel mit seinen Untergruppen - Frauengruppe, Arbeitsgemeinschaft republikanischer Beamten, Arbeitsgemeinschaft republikanischer Lehrer und Lehrerinnen, Sozialistische Elternbeiräte, Verein sozialdemokratischer Studierender, Sozialistisches Jugendkartell, Sozialistische Arbeiterjugend, Kinderfreundebewegung, Arbeiterwohlfahrt, Frauen- und Mütterberatungsstelle und Mieterberatung - verkörpert in sich ein gewaltiges Maß von politischen, sozialen und kulturellen Kräften."[1]

Vorwort von Toni Jensen zur Kieler Parteitags-Broschüre

Er hätte dazu etwa die Arbeitersportvereine - in Kiel vor allem die Freie Turnerschaft an der Kieler Förde - und den Konsumverein nennen können. Er hätte auch auf die Kinderrepublik Seekamp verweisen können, die - von Andreas Gayk maßgeblich mit entwickelt und vorwiegend von Kieler Parteimitgliedern organisiert - nur wenige Wochen später stattfand. Für dieses wegweisende Projekt hatten die Kinder auf dem Parteitag fleißig geworben und gesammelt.

Hermann Müller setzte die Parole "Heran an das Volk" gegen den deutschnationalen Spruch "Ran an den Staat".[2]

Paul Löbe spricht zur Kieler Parteijugend, die den Parteitag begrüßt.

Es sollten Jahrzehnte vergehen, bis sich wieder die sozialdemokratischen Spitzenfunktionäre in der Landeshauptstadt versammelten, nämlich bis zur Bundeskonferenz, die 1982 in Kiel stattfand.

Inhalte

Thematisch standen im Mittelpunkt der Beratungen das erste Agrarprogramm der SPD, das Fritz Baade maßgeblich mit erarbeitet hatte, und das Grundsatzreferat von Rudolf Hilferding. Das Agrarprogramm signalisierte durch seine Auseinandersetzung mit den Verhältnissen in der Landwirtschaft einen Versuch der Verbreiterung der Parteibasis über das Industrieproletariat hinaus und damit eine Hinwendung zum Konzept der Volkspartei. Deshalb war es zwar seit spätestens 1895 diskutiert, aber aus ideologischen Gründen bisher immer abgelehnt worden.

Grundsatzreferat von Rudolf Hilferding

Ein Höhepunkt des Parteitages war das Referat von Rudolf Hilferding zum Thema Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik, dessen Inhalt die Theorie und Programmatik der SPD zur damaligen Zeit widerspiegelte. Von ihrem Selbstverständnis her war sie zwar noch marxistisch ausgerichtet, jedoch wurde in ihr die "Zusammenbruchstheorie" verworfen, nach der das kapitalistische Wirtschaftssystem durch immer häufiger auftretende Krisen zusammenbrechen, das Proletariat durch eine Revolution die Macht übernehmen und eine sozialistische Gesellschaft aufbauen werde.

Statt dessen strebte die SPD einen demokratischen Weg zum Sozialismus an. Sie müsse laut Hilferding nutzen, dass sich das kapitalistische Wirtschaftssystem von einem Konkurrenzkapitalismus zu einem Organisierten Kapitalismus entwickelt habe (u. a. durch die Bildung von Aktiengesellschaften, Trusts und Kartellen), bei dem immer stärkere Verflechtungen zwischen Wirtschaft und Staat entstehen würden. Durch die mittlerweile erreichte Demokratisierung des Staates bestünde für die SPD nun die historische Möglichkeit, den wirtschaftlichen Bereich der Gesellschaft zu demokratisieren ("Wirtschaftsdemokratie"). Somit könne auf einem friedlichen Weg der Sozialismus erreicht werden.

In seiner Rede versuchte Rudolf Hilferding Wege aufzuzeigen, wie dies konkret erreicht werden könne. Zunächst einmal müsse mittels demokratischer Wahlen die Macht im Staate errungen werden. Die Arbeiterbewegung und die SPD müssten die Demokratie als ihre Errungenschaft begreifen und sie nicht durch falsche Begrifflichkeiten wie "formale" oder "bürgerliche Demokratie" abqualifizieren. Er plädierte dafür, sich zumindest aus taktischen Gründen wieder an Regierungen auf Reichsebene zu beteiligen, um dieses Feld nicht allein den bürgerlichen Parteien zu überlassen. Um die Macht der Sozialdemokratie in der Republik zu stärken, müsse die Partei es sich ferner zur wichtigen Aufgabe machen, die Teile der Arbeiterbewegung für sich zu gewinnen, die bislang entweder aus christlicher Überzeugung das Zentrum, aus wirtschaftlichen Notgründen die KPD oder gar die Deutschnationale Volkspartei wählten.

Eine auf der Basis dieser Rede formulierte und durch den Parteitag angenommene Resolution gilt als Wegbereiter für die Bildung der sogenannten Großen Koalition unter Führung der SPD ab Juni 1928.

Berichterstattung

Tagung des Parteiausschusses vor dem Parteitag 1927 in Kiel
Frauenkonferenz im Rahmen des Parteitages 1927 in Kiel

Die Schwäbische Tagwacht schrieb:

"Glänzender konnte die innere Verbundenheit der Sozialdemokratie mit dem arbeitenden Volke nicht dargetan werden, als es hier geschehen ist. Die mit der Flagge der deutschen Republik in der Legienstraße und in den Arbeitervierteln auch mit der roten Fahne des Sozialismus geschmückte Stadt Kiel huldigte während voller acht Tage ununterbrochen der Sozialdemokratie... Die "Roten Falken", Kiels sozialistische Jungens und Mädels, die zu Tausenden den Parteivorstand am Bahnhof empfingen, die Arbeiterjugend ganz Schleswig-Holsteins und Hamburgs, die vor Beginn des Parteitages ihre eigene Massenkundgebung veranstaltete, die Teilnehmer an der ungeheuren Massendemonstration am Eröffnungstage, der Zug zu den Gräbern der Revolutionsopfer am Montag, die Massen die am Dienstag den Reichsbannerchef Otto Hörsing empfingen, die ungezählten Tausende, die am Mittwoch den Parteitagsteilnehmern zujubelten und sie abends in einem Wald von leuchtenden Fackeln empfingen, als sie ihren Schiffsausflug nach Eckernförde machten, das Heer der Mütter und Väter, die am Donnerstag ihre Kinder mit roten Fähnchen am Parteilokal vorbeiführten, die nach Zehntausenden zählenden Frauen und Männer, die zu den zahllosen Werbeversammlungen in Kiel und Umgebung erschienen oder während der Tagung das prächtige Gewerkschaftshaus füllten - sie alle hatte die heilige Begeisterung für die gemeinsame Idee zusammengeführt."[3]

Nachwirkungen

Kurz nach dem Parteitag kam Ende Mai 1927 Reichspräsident von Hindenburg zu einem Staatsbesuch nach Kiel.

"Im Spalier für ihn war in imponierender Stärke das Reichsbanner Schwarzrotgold angetreten. In der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung lautete die Aufforderung dazu: 'Die schwarzrotgoldnen Fahnen des Reichsbanner sollen ihm zeigen, daß in Kiel, der einstigen Hochburg der "Kaiserlichen Marine", die Generation, die im Weltkrieg gekämpft hat, dem Reichsbanner Schwarzrotgold angehört ... Wer fehlt, schadet der Republik'. Die Reichsbannerkolonnen machten auf den Reichspräsidenten einen starken Eindruck, so daß er zu ihrem Führer Richard Hansen einige freundliche Worte über Schwarzrotgold sagte, unter dem man jetzt aufbauen wolle, nachdem man vorher unter Schwarzweißrot im Krieg gekämpft habe. Das Reichsbanner versäumte nicht, Hindenburgs Worte durch Plakatanschlag bekanntzumachen."[4]

Dieses Aufeinandertreffen war nicht jedem recht: Die Kieler SPD hatte sich genehmigen lassen, dass der Flaggenschmuck für den Parteitag noch bis Ende Mai hängen durfte - vermutlich in dem Wissen um Hindenburgs anstehenden Besuch. Im Kieler Stadtarchiv existiert ein Brief mit der Beschwerde, dass dem Reichspräsidenten der Anblick der noch überall hängenden roten Fahnen nicht zuzumuten sei.[5]

Dank der Partei

Der Parteivorsitzende Otto Wels dankte den Kieler Sozialdemokraten mit den Worten:

"Es war ein Parteitag, der in seiner Gestaltung alles übertraf, was wir jemals auf Parteitagen erlebt haben."[6]

Am 4. Juni sandte der Parteivorstand aus Berlin einen schriftlichen Dank nach Kiel, der hinter der Verpflichtung zum Lob und dem zeitüblichen Pathos deutlich macht, dass man durchaus beeindruckt war:

"Werte Genossen!

Der Parteivorstand sieht sich veranlaßt, noch einmal schriftlich den Kieler Parteigenossen für die aufopferungsvolle Arbeit während des Parteitages und seiner vielen Nebentagungen herzlichst zu danken. Wir sind alle von dem Gefühl der Dankbarkeit durchdrungen, das wir der Kieler Arbeiterschaft schulden, da sie zum wesentlichen Teile an[7] dem Gelingen des Parteitages beigetragen hat. Es wird kaum einmal einer anderen Parteiorganisation möglich sein, das zu erreichen, was den Delegierten des Kieler Parteitages durch das Zusammenwirken aller Zweige der Arbeiterbewegung in Kiel geboten worden ist. Nicht nur die so stark in Erscheinung tretende Harmonie unter den bei den verschiedenen Festlichkeiten Mitwirkenden war es, die auf uns alle so starken Eindruck machte, sondern vielmehr noch das sich unabweisbar aufdrängende Gefühl, hier wird der Partei aus vollem Herzen das Beste gegeben, was zu geben möglich ist. Dafür bitten wir Sie, allen Mitwirkenden unseren Dank aussprechen zu wollen: der Parteiorganisation wie der Arbeiterjugend, den Kinderfreunden und den prächtigen Roten Falken, den Arbeitersängern ebenso wie den Arbeitersportlern und Arbeitersamaritern[8], den Gewerkschaftsgenossen und den Reichsbannerkameraden. Dank auch der Leitung des Tagungslokals und seinem Personal für die anstrengende Arbeit, die sie während der Tagungszeit auf sich nehmen mußten. Wir wissen, daß sie es gern geleistet haben, weil auch sie sich als Teil des Ganzen fühlten, getragen von dem Gefühl der Verpflichtung, zu einem vollen Gelingen aller Veranstaltungen beizutragen. Die schleswig-holsteinische Organisation hat sich selbst einen Ruhmeskranz in der Kieler Woche gewunden. Dafür nochmals den Dank der ganzen Partei auszusprechen, ist uns Freude und gern erfüllte Pflicht.
Mit Parteigruß!

Der Parteivorstand, gez. Otto Wels, Herm. Müller"[9]

Bemerkenswert erscheint, dass hier nicht das heute in der SPD übliche "Du" verwendet wird.

Links

Einzelnachweise

  1. Brecour, Wilhelm: Die sozialdemokratische Partei in Kiel. Ihre geschichtliche Entwicklung (Kiel 1932), neu veröffentlicht in: Zur Geschichte der Kieler Arbeiterbewegung, Sonderveröffentlichung 15 der Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte (Kiel 1983), S. I-96
  2. Osterroth, Franz: 100 Jahre Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein. Ein geschichtlicher Überblick (Kiel o. J. [1963]), Seite 93
  3. Zitiert nach: Osterroth, Franz: 100 Jahre Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein. Ein geschichtlicher Überblick (Kiel o. J. [1963]), Seite 91 f.
  4. Osterroth, Franz: 100 Jahre Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein. Ein geschichtlicher Überblick (Kiel o. J. [1963]), Seite 92
  5. Stadtarchiv Kiel, Akte ?
  6. Zitiert nach: Osterroth, Franz: 100 Jahre Sozialdemokratie in Schleswig-Holstein. Ein geschichtlicher Überblick (Kiel o. J. [1963]), Seite 91 f.
  7. So im abgedruckten Text.
  8. Hier ist vermutlich auch die von der SPD 1919 gegründete Arbeiterwohlfahrt gemeint, die nach Brecour (s. Zitat oben) beteiligt war.
  9. Abgedruckt in der VZ am 7.6.27