Egon Bahr

Aus SPD Geschichtswerkstatt
Egon Bahr
Egon Bahr
Egon Bahr
Geboren: 18. März 1922
Gestorben: 20. August 2015

Egon Karl-Heinz Bahr, * 18. März 1922 in Treffurt/Thüringen, † 20. August 2015 in Berlin; Industriekaufmann, Journalist, Bundesminister. Mitglied der SPD seit 1956.

Werdegang

Egon Bahr war der Sohn eines Lehrers und seiner aus jüdischer Familie stammenden Ehefrau. Etwa 1928 zog die Familie nach Torgau, 1938 nach Berlin-Friedenau. Der Forderung der Nazis nach Scheidung widersetzte sich der Vater erfolgreich. Er wurde jedoch gleich zu Beginn des 2. Weltkrieges zur Wehrmacht eingezogen.[1] Sein Sohn besaß eine hohe musikalische Begabung; sein Berufswunsch, Musiker zu werden, ließ sich jedoch nicht verwirklichen[2]. Nach dem Abitur und einer Ausbildung zum Industriekaufmann bei der Rheinmetall Borsig AG in Berlin meldete sich Egon Bahr 1941 freiwillig zur Luftwaffe, um nicht zur Infanterie einberufen zu werden. 1944 wurde er jedoch 'unehrenhaft' entlassen: Man hatte in seinen Papieren eine jüdische Großmutter entdeckt.[3] "Wegen 'Einschleichens in die Wehrmacht' musste er die Uniform ausziehen und wurde zur Rüstungsproduktion bei Rheinmetall Borsig in Berlin dienstverpflichtet."[2]

Bei Kriegsende 1945 lernten sich Egon Bahr und Dorothea Grob kennen und heirateten kurz darauf; aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor.[3] Mit einer späteren Partnerin, Karena Niehoff (1920-1992), hatte er ebenfalls eine Tochter.

An ein Studium war aus Geldmangel nicht zu denken. So arbeitete Egon Bahr zunächst als Journalist bei der Berliner Zeitung, der Allgemeinen Zeitung, der Neuen Zeitung und dem Tagesspiegel. Von 1950 bis 1960 war er Chefkommentator des Rundfunksenders RIAS Berlin und Leiter von dessen Bonner Büro. Von März bis Juli 1959 war er als Regionalbeauftagter für Berlin-Programme der Bundesregierung an die Botschaft Accra (Ghana) abgeordnet.

Im Februar 1960 berief ihn der Berliner Regierende Bürgermeister Willy Brandt zum Leiter des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin; diese Funktion übte er bis Dezember 1966 aus. Brandt, mittlerweile Außenminister und Vizekanzler der Großen Koalition, holte ihn auch 1967 als Botschafter zum Auswärtigen Amt in Bonn, wo er die Verhandlungen zur Errichtung einer Handelsvertretung in Prag führte. Anschließend wurde er Ministerialdirektor im Planungsstab des Auswärtigen Amtes, nach der Bundestagswahl 1969 ab Oktober Staatssekretär im Bundeskanzleramt unter Bundeskanzler Willy Brandt.

Kieler Delegation berichtet Sonderminister Egon Bahr von der Rostocker Ostsee-Woche

Egon Bahr war an allen wesentlichen Verträgen der Brandt-Regierung mit dem Warschauer Pakt - Moskauer Vertrag 1970, Warschauer Vertrag 1970, Transitabkommen 1971, Grundlagenvertrag mit der DDR 1972 und Prager Vertrag 1973 - als Chefunterhändler mit weitreichenden Vollmachten beteiligt.

Von 1977 bis 2002 lebte Egon Bahr mit der Vorwärts-Redakteurin Christiane Leonhardt (* 1941) zusammen.

Von 1979 bis 2000 war er als Vorstandsmitglied der Friedrich-Ebert-Stiftung prägend für deren internationale Arbeit.[4] Seit 1984 gehörte er dem deutschen PEN-Zentrum an.

Im Frühjahr 1990 wurde er Berater von Rainer Eppelmann, dem letzten Verteidigungsminister der DDR, bis zu deren Ende.[3]

Privat wird Egon Bahr als "Krimi-Fan" beschrieben[2] und spielte weiterhin gern Klavier, am liebsten Chopin.[3]

2011 heirateten er und seine langjährige Partnerin, die emeritierte Kieler Hochschullehrerin Prof. Adelheid Bonnemann-Böhner (* 1935).

Parteiämter

1973 kandidierte Egon Bahr erfolgreich für den schleswig-holsteinischen Landesvorstand.[5] Auf dem ordentlichen Parteitag 1973 in Eckernförde wurde er als Beisitzer mit einer der höchsten Stimmenzahlen gewählt[6] und blieb Beisitzer bis zum Landesparteitag in Reinbek 1985.

Vom 1. Dezember 1976 bis 31. März 1981 war Egon Bahr unter dem Parteivorsitzenden Willy Brandt Bundesgeschäftsführer der SPD. Dort "war er wegen seiner Ungeduld und seiner Neigung zum Jähzorn bei den Mitarbeitern gefürchtet [und] betrieb eine scharfe Abgrenzungspolitik zur SPD-Linken [...]."[2]

Ab 1976 gehörte er auch dem Parteipräsidium an, 1987 wurde er Vorsitzender der sicherheitspolitischen Kommission der SPD.

Bundestag

Zur Aufstellung als Bundestagskandidat in Schleswig-Holstein kam Egon Bahr durch die gute Verbindung von Willy Brandt zum schleswig-holsteinischen Landesvorsitzenden Jochen Steffen. Der hatte großes Interesse an Friedenspolitik; nach einer Konferenz im Frühjahr 1972 zu diesem Thema brachte Brandt ihn dazu, Bahr auf einen guten Listenplatz für die Bundestagswahl 1972 zu setzen - zunächst ohne eigenen Wahlkreis. Im Rechenschaftsbericht 1971-1973 wird von der Landesvorstandssitzung am 29. September 1972 im Haus Seehof in Malente berichtet:

"Mit dem Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Egon Bahr, wird ein politisches Grundsatzgespräch geführt. Konkret geht es dabei um die Möglichkeiten einer Kandidatur Egon Bahrs auf der schleswig-holsteinischen Landesliste zur Bundestagswahl. Das Gespräch erbrachte das Ergebnis, daß der Landesvorstand eine Kandidatur Bahrs auf einem der vorderen Listenplätze begrüßen würde. Es wird vereinbart, das Gesprächsergebnis in den Landesausschuß zur Begutachtung zu geben. Bis zur Landesausschußsitzung wird die Angelegenheit vertraulich behandelt."[7]

Nach zum Teil heftigen Kontroversen in Landesvorstand und Landesausschuss wählte ihn am 7. Oktober 1972 der Landesparteitag in Mölln mit 158 Ja-Stimmen, 4 Gegenstimmen und 8 Enthaltungen auf Platz zwei der Landesliste - unter der Bedingung, dass er nach der Wahl auf das Mandat verzichten und jemanden aus Schleswig-Holstein nachrücken lassen würde.[8]

Von 1972 bis 1990 war er Bundestagsabgeordneter, 1976 und 1980 direkt gewählt im Wahlkreis 1 (Flensburg–Schleswig), ansonsten über die Landesliste. Von einem Verzicht auf das Mandat war offenbar keine Rede mehr; es wäre auch keine durchsetzbare Bedingung gewesen.

1973 erklärte er sich bereit, auch den Wahlkreis 3 (Nordfriesland/Norderdithmarschen), in dem ein CDU-Kandidat direkt gewählt worden war, mit Hilfe eines Assistenten zu betreuen.[9]

1980 hatte er den Vorsitz im Unterausschuß Abrüstung und Rüstungskontrolle.

Bundesregierung

Friedenspolitik

MdB Egon Bahr spricht am 25. Februar 1983 vor dem OV Kiel-Süd. Das Polaroidfoto ist von Bahr signiert.

Egon Bahr gilt als der "Architekt der Ostpolitik", mit der Willy Brandt als Bundeskanzler im Kalten Krieg die Entspannung der Beziehungen zum Warschauer Pakt vorantrieb. In seiner "Tutzinger Rede" am 15. Juli 1963 prägte Bahr den Begriff "Wandel durch Annäherung"[10]. Dieses Konzept sollte danach bestimmend werden für die Außenpolitik der deutschen Sozialdemokraten. "Seine Entspannungspolitik war eine Politik der kleinen Schritte, die schließlich zum Erfolg führte."[4]

Von 1980 bis 1982 gehörte er der von Olof Palme initiierten und geleiteten "Unabhängigen internationalen Kommission für Abrüstung und gemeinsame Sicherheit" an; seit September 1984 war er als Nachfolger von Wolf von Baudissin Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg.

Zitate

  • "Im Frieden leben erfordert nicht große Worte, sondern viele kleine Schritte."

Veröffentlichungen und Literatur

Ehrungen

Egon Bahr hat in seinem Leben eine Vielzahl von Ehrungen erhalten. Hier kann nur eine Auswahl genannt werden.

Unter anderem erhielt er 1973 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, 1975 wohl auch Stern und Schulterband[11].

1976 wurde ihm der Theodor-Heuss-Preis, 1982 der Gustav-Heinemann-Bürgerpreis zuerkannt. 1984 ernannte ihn die Universität Hamburg anlässlich der Übernahme der Institutsleitung zum Honorarprofessor.

2002 verlieh ihm die Stadt Berlin die Ehrenbürgerwürde. 2004 benannte seine Geburtsstadt Treffurt die Straße, in der sein Geburtshaus steht, nach ihm um; er weihte sie selbst ein.[3]

2007 wurde er mit dem Willy-Brandt-Preis der norwegisch-deutschen Willy-Brandt-Stiftung, 2008 mit dem Göttinger Friedenspreis und dem Marion-Dönhoff-Preis ausgezeichnet.

Seit 2012 vergibt das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Moskau ein Egon-Bahr-Fellowship, um eine neue Generation von politisch denkenden und handelnden Nachwuchsführungskräften an die Vertiefung der deutsch-russischen Beziehungen heranzuführen.

Die Arbeiterwohlfahrt verlieh ihm am 13. Dezember 2013 den Heinrich-Albertz-Friedenspreis, das Deutsch-Russische Forum in Berlin im März 2015 den Friedrich-Joseph-Haass-Preis.

Das Archiv der sozialen Demokratie verwahrt Bahrs Nachlass und regt Forschungen zu seinem Wirken an.

Stimmen

Aus dem Nachruf auf Spiegel online:

"Er war ein Mann, an dem sich die Geister geschieden haben. Auf der politischen Bühne Bonns war er eine schillernde Figur. Er gilt als der "Architekt der deutschen Ostpolitik", der Willy Brandts Visionen umgesetzt hat in praktische Politik, als Anreger und Antreiber, als scharfsinniger Taktiker und kluger Stratege. Für die einen war er die "graue Eminenz", der Vordenker der Brandtschen Ostpolitik, für die anderen ein kalter Macchiavellist, dem nicht über den Weg zu trauen sei. Seine unverhüllte intellektuelle Überheblichkeit und seine unterkühlte Emotionalität umgaben ihn stets mit einem Mantel der Unnahbarkeit, der gewollten Distanz, hinter der er eine tiefe Empfindsamkeit verbarg. In seinen letzten Lebensjahren [geriet er] zunehmend in Vergessenheit. Es schmerzte ihn, dass die CDU/CSU, die ihn jahrelang wegen seiner Politik geschmäht und des Ausverkaufs deutscher Interessen bezichtigt hatte, die Ernte einfahren konnte, die Brandt und er gesät hatten. Am Ende seines Lebens zog der Mann, der sich einen festen Platz in der Geschichte der deutschen Einigung erworben hat, trotz aller Anfeindungen, Rückschläge und Enttäuschungen eine stolze und zufriedene Bilanz seiner Ostpolitik: 'Ich habe mit allem, was geschehen ist, das erreicht, was ich wollte.'" [2]

Aus einer persönlichen Erinnerung des Journalisten Gerhard Spörl:

"Er war ein angenehmer Mensch, der Menschen mochte. Kein Zyniker, auch das ist nach so vielen Jahren in seinem Gewerbe eine Leistung. Ein Mann, dem ich gerne beim Denken zuhörte. Der präzise argumentierte und druckreif sprach."[12]

Links

Einzelnachweise

  1. Vgl. Der Geheimdiplomat Egon Bahr (Dokumentation, D 2012), angeführt bei Wikipedia, abgerufen 12.9.2015
  2. 2,0 2,1 2,2 2,3 2,4 Günsche, Karl-Ludwig: Zum Tode Egon Bahrs: Wegbereiter der Einheit, spiegel-online, 20.8.2015
  3. 3,0 3,1 3,2 3,3 3,4 Lüddemann, Steffen: Feature: Der Diplomat Egon Bahr, NDR Info Spezial, 23.8.2015, Text abgerufen 12.9.2015, am 12.12.2022 nicht mehr abrufbar
  4. 4,0 4,1 Die Friedrich-Ebert-Stiftung trauert um ihr ehemaliges Vorstandsmitglied Egon Bahr, abgerufen 11.9.2015
  5. Bahr erstrebt Platz im SPD-Landesvorstand, KN, 11.1.1973
  6. Steffen behält SPD-Vorsitz für die nächsten zwei Jahre, KN, 26.2.1973
  7. Rechenschaftsbericht 1971-1973
  8. Selzer, Rolf: Stiernackige profilierte Dickschädel - Hintergründiges über SPD-Lichtgestalten aus der Provinz im Norden, unveröffentlicht
  9. Bahr betreut Wahlkreis mit einem Assistenten, KN, 27.2.1973
  10. Archiv der sozialen Demokratie: "15.07.1963: Wandel durch Annäherung"
  11. Vgl. Egon Bahr, abgerufen 12.9.2015
  12. Spörl, Gerhard: Er war ein Glück für uns, spiegel-online, 20.8.2015